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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 440

Text

440 NOTIZEN.

und setzen ein paar leere Worte
als verbindenden Text. Geschickter
sind die complicirten Impotenzen.
Diese schreiben heutzutage durch-
wegs kunstphilosophische oder philo-
sophisch-psychologische Essays. Mit
den paar Gedanken, die sie hier
und dort unbemerkt stiebitzen,
oder mit irgend einem Reflex-
gedanken, der ihnen wirklich ein-
mal eingefallen ist, gehen diese
»Napoleone der Literatur« (man
muss bei diesem Gattungsnamen
bleiben) sorgfältig und sparsam
um. Im gewöhnlichen Leben ver-
rathen sie nichts von diesen
Schätzen. Aber wenn sie vor dem
Schreibtisch sitzen, kramen sie
ihre Habseligkeiten aus. Daher
dieser fürchterliche Ernst in ihren
Essays, diese Melancholie der
Impotenz. Wie sie schwitzen,

wenn sie von ihren kunstphilosophi-
schen Anschauungen reden! Um
so freudiger ist dieser Band
gesammelter Essays von Carl
Spitteler zu begrüssen. Es sind
momentan vielleicht die einzigen
Essays in Deutschland, worin Wahr-
heiten lachend gesagt werden. Der
Autor strengt sich gar nicht an.
Was er hier und dort gesehen hat,
was ihm dabei eingefallen ist (ganz
unsystematisch, wie es sich für
einen productiven Essayisten ziemt),
lauter einleuchtend richtige und ge-
scheite Dinge werden uns in guter
Laune mitgetheilt. Der Gesammt-
eindruck ist, dass man es hier mit
einem freimüthigen, kunst- und
lebensverständigen Menschen zu
thun hat. Von wie viel Literaten,
insbesondere den Essay-Fabrikanten,
kann man das sagen?

st. gr.



Herausgeber: Gustav Schoenaich, Felix Rappaport.

Verantwortlicher Redacteur: Gustav Schoenaich.

Ch. Reisser & M. Werthner, Wien.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 440, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0440.html)