Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 438

Im Hause der Abgeordneten Herzfeld, »Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen nebst anderen Essays«

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 438

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438 NOTIZEN.

habe mit der Politik nichts zu
schaffen. Die wenigen Leute, die
gewohnt sind, derartige Vorgänge
mit der Unbefangenheit des Psycho-
logen zu verfolgen, lächelten: der
Mann war unabsichtlich tiefsinnig
gewesen

Wie sehr, zeigte sich einige Tage
später, als man erfuhr, das Gast-
spiel eines deutschen Künstlers sei
von der magyarischen Patrioten-
presse verhindert worden; ein an
sich äusserst geringfügiger Vorfall,
der höchstens durch die Art, wie
man ihn als selbstverständlich hin-
nahm, ein gewisses Interesse er-
regt. Dass es einige Eisenbahn-
stunden von Wien entfernt Leute
von so vorsintfluthlichen und dem
Europäer so schwer fassbaren Be-
griffen gibt und dass sie herrschen,
wundert Niemanden mehr. Ueber
die Culturfähigkeit der magyari-
schen Race ist man so ziemlich
im Klaren; sie hat kürzlich das
tausendjährige Jubiläum ihres
Reiches gefeiert, dessen Gründung
bisher leider ihre einzige That
blieb. Bei den günstigsten Be-
dingungen hat sie bisher keine
irgendwie erwähnenswerthe Leistung
vollbracht, sie hat keine grossen
Namen in ihrer Geschichte, sie hat
nie eine Idee gezeugt, und sie ist
heute gezwungen, einen Roman-
verfertiger vom Schlage der Marlitt
für einen bedeutenden Mann aus-
zugeben; zu aller productiven
Geistesarbeit gänzlich untauglich,
beschäftigt sie sich damit, halb-
verstandene Institutionen, die im
Westen in Jahrhunderten orga-
nisch entstanden, herüberzuholen
und gewaltsam einzubürgern. Sie
kann als Beispiel dafür dienen,
bis zu welchem Grade geistiger
Verflachung man durch das heute

grassirende und ganz unnatürliche
Grossziehen aller national-politi-
schen Instincte herabsinkt. Während
eine Cultur sich nur auf der
Fähigkeit der Rangbestimmung
aufbauen kann, gebraucht die
Politik falsche Werthungen, indem
sie Ueberflüssiges wichtig macht
und Werthvolles in den Hinter-
grund rückt. Durch Fictionen und
Schlagworte schafft sie unnatür-
liche Gruppirungen und gewöhnt
den Einzelnen daran, »sich um
Dinge zu kümmern, die ihn nichts
angehen«, dagegen sein eigenstes
Eigenthum, sich und seine Ent-
wicklung zu vernachlässigen; sie
verscheucht die Individualitäten
und erzeugt Dutzendmenschen,
Leitartikelseelen und Männerge-
sangvereinsbegeisterungen
Mögen doch die braven und wahr-
lich nicht zur Leidenschaft ge-
borenen Leute, die man heute mit
den Drommeten des Stammes-
bewusstseins aus ihrer Ruhe stört,
nicht vergessen, dass der Werth
einer Race sich nur in der von
ihr geschaffenen Cultur offenbart;
dass ein Volk sich nur in seinen
Gipfeln ehrt und keinen Grund hat,
stolz zu sein, so lange es seine
Heroen verleugnet und an seiner
Gleichgültigkeit zugrunde gehen
lässt.

»Die skandinavische Li-
teratur und ihre Ten-
denzen nebst anderen Es-
says« betitelt sich ein Buch von
Marie Herzfe1d (Verlag Schuster
& Loeffler, 1898), das wir mit an-
theilvollstem Interesse gelesen ha-
ben. Die Verfasserin, deren vortreff-
liche Uebersetzungen der deutschen
Lesewelt so vieles Bedeutende,
jedenfalls Symptomatische des nor-
dischen Schriftthums vermittelt

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 438, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0438.html)