Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 433
Text
Von Gustav Schoenaich (Wien).
I.
In den Räumen der Gartenbaugesellschaft am Parkring hat die
»Vereinigung der bildenden Künstler Oesterreichs« — so nennen sich
diejenigen, aus deren gutem und tapferem künstlerischen Geiste unsere
Secession hervorgegangen ist — eine Ausstellung veranstaltet, deren
grosser und augenscheinlich nicht nur materieller, sondern auch künstleri-
scher Erfolg ein über Erwarten grosser ist. Haben bei früheren Aus-
stellungen oft genug die mit Gemälden nach dem vorausgesetzten
Tagesgeschmack gepflasterten Wände, deren Menge schon die Wirkung
des einzelnen Werkes aufhob, eine künstlerische Stimmung und damit
ein tieferes Interesse der spärlichen Besucher nicht aufkommen lassen
— so finden sich in der Secessions-Ausstellung der Beschauer so viele
ein, dass uns die Menge der Anwesenden und genussfreudig Schauenden
die nähere Betrachtung des Einzelnen oft erschwert — eine Unzu-
kömmlichkeit, die wir über der Freude, in der Bevölkerung wieder
einigen künstlerischen Sinn erwacht zu sehen, gerne hinnehmen. Die
Anziehungskraft, welche das Unternehmen ausübt, gibt wirklich Einiges
zu denken. Denn die Wiener waren, wo nicht das Stoffliche des Kunst-
werkes Aufsehen erregte und Zulauf bewirkte, dem Reinkünstlerischen
gegenüber schon bedenklich tief in den Sumpf der Gleichgiltigkeit ver-
sunken. Um sich von Fremdartigem und Ueberraschendem zum Wider-
spruch reizen zu lassen, pilgern die Leute nicht in die Secessions-
Ausstellung. Sie würden bei dieser Absicht auch wohl kaum auf ihre
Kosten kommen. Was dort geboten wird, unterscheidet sich, auf das
Aeusserliche der Behandlungsweise hin angesehen, nicht in dem Grade
vom Gewohnten, dass dadurch die Neugier der Menge hätte erregt
werden können. Auch ist es der Stimmung, den Gesprächen und der
augenscheinlichen Lebhaftigkeit des Eindruckes so vieler Werke auf
die Beschauer unschwer zu entnehmen, dass die Quelle ihres Antheiles
der Eigenart des Gesehenen selbst entspringt. Ein Beweis dafür, dass
die Geneigtheit der Wiener, den Schablonenmassstab, nach dem Werke
der Malerei in Wien bis in die letzte Zeit gemessen wurden, weg-
zuwerfen und mit eigenen Augen zu sehen, in erfreulicher Aufnahme
begriffen ist. Diese Umstimmung des Publicums hätte sich noch gründ-
licher und organisch wachsend eingestellt, wenn der Weg, der durch
die vor einigen Jahren veranstaltete Ausstellung der Münchener Secession
im Künstlerhause betreten wurde, weiter verfolgt worden wäre und die
Reaction in der Genossenschaft nicht wieder die Oberhand gewonnen
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 433, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0433.html)