Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 432
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und die Urtheile der ihn begleitenden Schüler angehört, sagte er zu
den Letzteren als Antwort auf ihre Fragen (zu welcher Schule das Werk
gehören mochte u. dgl.): »Ich glaube nicht, dass der unbekannte und
vielleicht längst gestorbene Künstler, der der Welt dieses Vermächt-
niss hinterlassen hatte, zu irgend einer Schule gehörte oder irgend
etwas gemalt ausser diesem einen Gemälde, denn das ist eine per-
sönliche Sache — ein Stück aus dem Leben eines Menschen.«
Niemand wird zu meinen Versen gelangen, der darauf beharrt,
sie als eine literarische Leistung oder als Versuch solcher Leistung zu
betrachten oder überhaupt als etwas, das vornehmlich mit Kunst und
Aesthetik zu thun hat. Ich hoffe, dass ich mit etwas Anderem zur
Nachwelt kommen werde — etwas Besserem, wenn ich das zu sagen
wagen darf. Wenn ich die »Grashalme« auf die gewöhnlichen Voraus-
setzungen stützen würde — wenn ich nicht fühlte, dass die tiefsten
sittlichen, socialen, politischen Ziele Amerikas (ja, der ganzen mo-
dernen Welt) die Allem zugrunde liegenden Bestrebungen zum
Mindesten meiner Schriften sind; dass die Geographie und Hydro-
graphie dieses Continents, der Prairien, des St Lorenz-Stromes, Ohios,
der Carolines, Texas’, Missouri’s, der wirkliche und wahrhafte geistige
Strom darin sind, ich hätte nie wagen dürfen, sie setzen, drucken und
zum Verkauf anbieten zu lassen.
Ich meine, dass nie ein Land oder Volk oder Zeitlage existirte,
die in solchem Masse einer Race von Sängern und einer Gattung
von Gedichten bedürften, die sich von allen Anderen unterscheiden und
im strengsten Sinne ihre eigenen sind, wie Land und Volk und Zeit-
lage unserer Vereinigten Staaten solcher Sänger und Gedichte bedürfen —
heute wie für die Zukunft. Noch mehr, so lange die Staaten nicht auf-
hören, sich von der Dichtung der alten Welt nähren zu lassen und
in ihr das geistige Heim zu finden, und so lange sie keinen auto-
chthonen Gesang aufbringen, um ihren materiellen und politischen Er-
folgen Ausdruck, Leben, Farbe und Klarheit zu geben, der ihnen allein
eigen ist, so lange werden sie nicht eine wahrhaft und vollkommene
Nationalität bilden und mangelhaft bleiben.
Ich schliesse mit zwei Bemerkungen für den bildnerischen Genuss
des Westens, wenn er sich einmal würdig erhebt: erstens, was Herder
den jungen Goethe lehrte: dass wirklich grosse Poesie immer (wie die
homerischen oder biblischen Gesänge) das Resultat eines nationalen
Geistes und nicht das Privileg einiger verfeinerten und ausgewählten
Wenigen ist, und zweitens, dass die machtvollsten und süssesten Ge-
sänge noch zu singen sind.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 432, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0432.html)