Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 419

Die »Neue Universität« in Brüssel (Gumplowicz, Dr. Ladislas)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 419

Text

DIE »NEUE UNIVERSITÄT« IN BRÜSSEL.
(Eine Hochschule ohne Zopf.)
Von Dr. Ladislaus Gumplowicz (Graz).

Nichts ist erquickender als ein Buchenwald nach dem Gewitter
und ein Volk nach einer siegreichen Revolution. Letzteres war der
Fall der Belgier anno 1830. Sie hatten ihren legitimen König von
Diplomatencongresses Gnaden zum Teufel gejagt und sich (das nennt
man ja bekanntlich Befreiungskampf!) einen neuen König gegeben, einen
König von Gnaden der Strassenrebellion.

In jener gewitterfrischen Zeit lebte in Brüssel ein liberaler Volks-
mann, den ich gekannt haben möchte; denn nach Allem, was man
über ihn sagt und schreibt, war er ein Prachtkerl, kühn und derb. Er
hiess Theodor Verhaegen. Notabene: man lasse sich ja nicht durch
die vertrackte vlämische Orthographie verführen. Der betonte Stamm-
silbenvocal in Verhaegen’s Namen ist kein leisetreterisches, meckerndes Ä,
sondern ein helles, klares A. Und auf dieses helle, klare, weithin-
schallende Volksredner-A war sein ganzes Leben gestimmt.

Verhaegen wusste auch B zu sagen, wenn er A gesagt hatte.
Er hatte seinem Volk die politische Freiheit erringen helfen; er wollte
ihm auch die geistige Freiheit verbürgen. Er wurde (1834) der Gründer
der freien Universität zu Brüssel.

Das heisst: Verhaegen und eine Anzahl gleichgesinnter Privat-
leute traten zu einem Verein zusammen, der ein imposantes neues
Universitätsgebäude bauen liess, Professoren besoldete, Hörer immatri-
culirte, Laboratorien und Kliniken schuf. Und das Alles, ohne dass
der Staat, dieser irdische Herrgott, ohne den, nach österreichischer
Vorstellung, kein Sperling aus dem Neste fällt, etwas Anderes dazu-
gethan hätte als der jungen Hochschule aus der Sonne zu gehen: er ge-
stattete ihr in Gnaden zu existiren und liess die Giltigkeit ihrer Di-
plome unangefochten.

Und die freie Universität wurde eine Schule des Lebens; Lehrer,
die mitten im Volksleben standen, lehrten dort ihre Schüler die Gegen-
wart zu verstehen und ihre Kämpfe thätig mitzukämpfen.

Verhaegen wurde alt, er schied aus dem politischen Leben, er
starb. Und inzwischen ging es in Belgien wie anderswo auch. Auf die
heroische Phase des belgischen Liberalismus folgte die Phase des
Nationalliberalismus, die Phase der vereinigt-linkischen Arbeiterfeind-
lichkeit — kurzum, die einstigen Wortführer des rebellischen Volks-
willens entwickelten sich rückwärts, wie ein zum festsitzenden Parasiten

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 419, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0419.html)