Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 426
Text
Von Walt Whitman.
Deutsch von Carl Federn .
Meine Freunde haben mehr als einmal einige embryonische
Thatsachen von meinen «Grashalmen» angedeutet oder vielleicht ist
es nur die Geschwätzigkeit des vorschreitenden Alters, die mich heute
zum Reden anregt. Dr. Bücke hat bereits klar und ausführlich die
Vorbereitung meines poetischen Feldes erklärt, das Pflügen, Bepflanzen,
Besäen und Besetzen des Bodens im Allgemeinen und Einzelnen, bis
Alles befruchtet war und Wurzel geschlagen und bereit war, aufzu-
zugehen und emporzustreben auf eigenem Weg zu Gutem oder
Schlimmem.
Etwa in meinem 16. Jahre war ich Besitzer eines starken, wohl-
angepfropften Octavbandes von 1000 Seiten geworden, der (ich habe
ihn noch) Walter Scott’s gesammte Poesien enthielt, ein unerschöpf-
licher Schacht und Schatzkammer poetischen Studiums (insbesondere
die endlosen Wälder und Dickichte von Anmerkungen) das ist er
für mich durch fünfzig Jahre gewesen und ist es noch heute.
Später pflegte ich zu Zeiten mich aufzumachen — manchmal
für eine ganze Woche in einem — und ging hinab ins Land oder
an die Meerküsten von Long Island, und da, im Angesicht all der
Einflüsse des freien Himmels, durchlas ich gründlich das alte und das
neue Testament und genoss (vermuthlich mit grösserem Vortheil für
mich, als in irgend einer Bibliothek oder einem geschlossenen Raum
— es macht solch einen Unterschied, wo man liest) Shakespeare,
Ossien und die besten Uebersetzungen, die ich auftreiben konnte, von
Homer, Aeschylus, Sophocles, den alten deutschen Nibelungen, den ur-
alten Gedichten der Hindu und ein oder zwei anderen Meisterwerken,
darunter das Dante’s. Zufällig las ich den letzteren zumeist in einem
alten Walde. Die Ilias (in Buckley’s Prosa-Uebersetzung) las ich zuerst
gründlich auf der Halbinsel Orient, an der Nordostspitze von Long
Island, in einer geschützten Höhle von Fels und Sand, auf beiden
Seiten das Meer. Ich habe mich manchmal seither gewundert, wie es
kam, dass ich von diesen gewaltigen Meistern nicht ganz überwältigt
wurde. Vermuthlich, weil ich sie, wie geschildert, in der vollen Gegen-
wart der Natur las, unter der Sonne, die weitgedehnte Landschaft und
ihre Fernblicke vor mir oder die hereinrollende See.
Zuletzt hatte ich unter vielem Anderen auch Edgar Poe’s Gedichte
angesehen — zu deren Bewunderern ich nicht gehörte, obwohl ich immer
erkannt habe, dass ausser ihrer beschränkten Scala von Melodien
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 426, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0426.html)