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zu werden. Der Engländer, der freilich viel stylvoller, viel umfassender
seinen äussern Menschen ändert, wenn er zur dinner-Ruhe kommt,
wird nie den Kaufmann verleugnen. Er wird dem Fremden gerne von
den Schiffen der Themse, von den zahllosen fremden Völkerschaften
erzählen, die in der »Stadt« belächelt werden. Wohl aber kennt er eine
ganz andere, eine weit edlere Ruhe als der bierstubensüchtige Deutsche
— er liebt die freie Luft. Jeder Galanteriewaarenhändler handhabt sein
Racket als Mitglied eines Tennisclubs mindestens ebenso geschickt als
die Feder. In den freien Stunden stürzen sie alle zu den gulf-grounds
und folgen aufmerksam in der glühendsten Sonne dem kleinen Ball
über hügelige Meilen offenen Graslandes. Der Sport, der diesen
prächtigen, widerstandskräftigen, sehnigen Männerschlag heranzieht, ist
eben nicht wie bei uns ein Vorrecht der Zeitbeschenkten. Unsere Ge-
schäftsleute, unsere Studenten klagen über Zeitmangel. Sie mögen in
gewissem Sinne Recht haben. Unsere ganze Schuldressur ist allzu ein-
seitig. Aber der Engländer gestaltet sich den Tag anders und — besser.
Wenn man nicht gerade magenleidend ist — und dann ist schon
der durchdringende Geruch all dieser voluminösen Gerichte schrecklich
— sieht man gerne diesem breiten, fast andächtigen Essen zu. Und
interessant ist das Typische der Schüsseln. Der Engländer hat seinen
Geschmack. Wir »Andern« kosten und verstehen Vieles zu goutiren.
Der Engländer muss sein Programm haben. Wieder ein Zeichen der
»Nation«, nicht so sehr einer »Race«, denn dieses zusammengewürfelte
Volk käme in grosse Verlegenheit, wollte man seine origines markiren.
Ich zähle diese vereinigenden Merkmale. Ich zähle sie mit einem stillen
Neide, wie etwa der Ungläubige einen heiss und innig mit seinem
Gotte Redenden betrachtet.
Das Prägnante am Engländer ist — ich kann mich nur wieder-
holen — seine Eigenschaft als Volkselement. Er ist nicht Individuum
in unserem Sinne. Er will nicht aus seinem Zahldasein heraustreten.
Er fühlt sich unbehaglich in persönlichen Gewohnheiten. Er übernimmt
die Liebhabereien, die Sitten und Ansichten seines Volkes. Er scheitelt
sein Haupthaar, raucht seine Pfeife, isst sein geschmackloses Weissbrot,
sitzt stundenlang hinter dem faden Glase Whiskey-Wasser, spielt seine
Nationalspiele, kennt und liebt das Pferd, den Hund, das Boot, die
Tageszeitung und das Bier.
Uns »Oesterreicher«, die wir uns englisch kleiden, französisch
denken, deutsch politisiren, in allen Stylen Kunst treiben — und eigent-
lich nur in der Musik und der duftigen Schönheit unserer Frauen
eine eigene Heimat dem forschenden Fremden mit Bewusstsein ent-
gegenstellen dürfen — uns thäte Noth, ein wenig Thätigkeit, Linien-
deutlichkeit von dem »überzeugtesten« Volk der Erde zu lernen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 425, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0425.html)