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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 424

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424 SCHAUKAL.

Wir sollen vielmehr recht betrübt in unsere Einsamkeit blicken
und unsere »Stamm«-Losigkeit beklagen, die uns (die geborenen Inter-
viewer fremder »Völkerschaften«) an dem Strande des Menschheits-
rneeres als seltsame, einsame Wesen liess.

Der Engländer tritt dir als sein Volk entgegen. Ihm gehört
das Meer, London, »die Stadt« (wie einst urbs dem Erdkreis Rom
bedeutete). Der gemeinste Kerl, der tabakkauend, mit breiten Nasen-
löchern, schwarzgebrannt, schmutzig am Strande strolcht, ist »der«
Engländer, ein Theil seines mächtigen Volkes. Englische, auch die
überseeische Politik ist dem Stiefelputzer des Boardinghouse wohl be-
kannt. Er liest seine Zeitung und ist »Anhänger« mit Emphase. Und
sozusagen einen »Hieb« vom Gentleman hat jeder Kellner, der seine
Zeitung auseinanderfaltet. Nirgends freilich kann man solche Rüppel,
solche »bontes«, so ungeschlachte »ganzknochige« Gliedercomplexe
kennen und hassen lernen als im Lande der »freien Bewegung«. Aber
wenn ein Engländer seine Beine an den Tisch stemmt, dass die Bretter
krachen, und in der Nase schaufelt, dass sich Erbarmen zum Ekel
drängt — er thut es gewissermassen »berechtigt«. Er ist »somebody«;
er hat einen Millionenhandel und »seine« Königin hat das »jubilee«
gefeiert. Man will ihm gedemüthigt vergeben. Aber ärgern dürfen
wir uns.

»Are you very fond of music?« Die läppische Frage wird dir
zehnmal des Tages gestellt. So recht eine ausgehungerte, mühselige
und staubbeladene Phrase. Und nun höre man den musikalischen
Engländer an! Die Geschmacklosigkeit auf der Höhe. Jedes halbwegs
lebensfähige Individuum spielt und singt. Ein Abend im drawing-room
bietet die reichste Auswahl unter wetteifernden musikalischen Mördern.
Sie sind alle so fürchterlich sentimental in ihren endlosen Liedern.
Und so bereit, einander nimmermüde abzulösen.

Wie wohlthuend ist dagegen die wirkliche tiefe Verehrung des
Volkes für seine Zierden. In einem Londoner »Variété«-Theater konnte
ein »Künstler« unter dem Jubel des Publicums Charaktere aus »David
Copperfield« mimen, und als er zum Schlusse den »Great novellist
himself« in markanter Pose zeigte, brach ein Freudensturm in allen
Räumen los. Man sollte so etwas bei uns probiren!

Eine »music-hall« ist überhaupt sehr lehrreich für den Fremden.
Was »die Stadt« an Typen aufweist, kommt auf die Bühne, und ge-
schmeichelt klatscht das Volk Zustimmung. Das Geld spielt eine grosse
Rolle in der »Kunst«. Ich kann mich keines deutschen oder französi-
schen Chansons entsinnen, in dem mit solcher Begeisterung vom »Klein-
geld« gesungen wurde, das man zu diesem und jenem Zwecke brauchen
kann. Wie überhaupt in London dreht sich das ganze Interesse um
das »business«. Es ist schon ekelhaft, wie selbstgefällig sich diese
Krämer geberden. Bei uns, dem Lande der falschen Scham und des
schüchternen Snobismus, wo jeder Handlungsgehilfe den »Cavalier«
spielt, wenn ihn zufällig der Nächstsitzende nicht kennt, will man mit
dem Rocke den Tagesmenschen ausziehen, man eilt, der Geschäfte los

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 424, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0424.html)