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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 423

Text

DER ENGLÄNDER.
Eine Studie von Richard Schaukal.

Was Alles in den halben von achtlosen Lippen sinkenden Lauten
an Schönheit athmet und Kraft, an Volkswitzen und grossen Tradi-
tionen, wollen wir mit eifersüchtiger Liebe ans Licht heben und leuchten
lassen. So entdecken wir uns die Sprache, ihre Macht und die Musik
ihrer Wahrheit. Und so entdecken wir uns die Menschen, wenn sie,
ohne sich mühsam auf den Krücken der Bedürfnisse zu strecken, still
und wie die Pflanzen ihre Stunde ausleben.

Dann werden uns auch die so gemissbrauchten Wunder der
»Nationalität«, der »Race« verständlich. Wie im Märchen ist es, wenn
dem Helden die Vögel zu reden beginnen.

Wir »Oesterreicher«, Fremden eine sonderbare, nicht recht zu
classificirende Menschengattung, wissen nicht, was das heisst, etwa ein
Engländer
sein. Wir sind geneigt, dem »Engländer« den Ungarn,
den Böhmen an die Seite zu stellen. Das ist diese Achtlosigkeit, dieses
logische Schlendern des Gewohnheitsthieres.

Es nehmen sich wenig Reisende die Mühe, ihre Nachbarn im
Geiste zu »entdecken«. Und besonders wir müssen das, wir überbildeten
»Linguisten«, wie uns so gerne die Fremden halb mitleidig nennen.
Der Franzose, der Engländer, sie stehen den Völkern ganz anders gegenüber
als wir Deutsche (besser »Oesterreicher«). Wie die Kinder lassen sich
die Engländer von draussen erzählen. Was für eine Sprache wir sprechen
in Oesterreich, ist eine häufige Frage. Dass unser Staat ein Conglo-
merat von einander befehdenden stammesverschiedenen Racen ist, ist
ihnen wie eine seltsame Sage, und sie schütteln das allzu langsam
functionirende Haupt. Man könnte ihnen den grössten Unsinn weis-
machen. Sie würden ein wenig staunen und — glauben. (Ich rede von
der grossen Menge, von dem Durchschnitt der »besseren« Classe.)

Nie ist mir die richtige Kosmopolitennatur des »Oesterreichers«
deutlicher geworden als in diesem naiven Verkehr mit neugierigen
Fragern. Denn sie sind geschwätzig, die »steifen« Briten. Ihre Schweig-
samkeit auf der Reise rührt davon her, dass sie Niemand verstehen.
Sie lernen ja principiell keine Sprachen. Ich fuhr mit einem Amerikaner
von Köln bis Brüssel, der zwei Jahre in Dresden und Leipzig Musik
studirt hatte, ohne mehr als zehn schlecht gestolperte deutsche Wen-
dungen sich zu erwerben. Dieser crassen Ignoranz, dieser bornirten
Hilflosigkeit gegenüber ist aber nichts weniger am Platze als das uns
allzu geläufige Lachen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 423, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0423.html)