Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 422

Die »Neue Universität« in Brüssel (Gumplowicz, Dr. Ladislas)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 422

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422 GUMPLOWICZ.

lingen, den halbvergessenen Dramatikern der Shakespeare-Periode; hier
verkündete Enrico Ferri, der gluthvolle italienische Socialist, seine
Theorien über das Verbrecherthum, und der belgische Socialistenführer
Vandervelde die Resultate seiner Studien über die Agrarfrage.

Ich bitte um Verzeihung; diese Liste ist nichts weniger als voll-
ständig. Ich habe noch vielerlei Werthvolles nicht erwähnt, was den
Hörern und Hörerinnen der Université nouvelle behufs allseitiger Er-
weiterung ihres Gesichtskreises geboten wurde. Noch manchen prächtig
befiederten Zugvogel habe ich nicht genannt, der in den Hallen der
freiesten aller Hochschulen Rast hielt, um dem jungen Lauschervolk
ein Lied von fernen seligen Inseln des Geistes zu singen. Aber zu
meiner Entschuldigung sei es gesagt: ich bin eben auch nur ein Zug-
vogel in Brüssel.

Vergessen wir übrigens über den lauten Beifallssalven, die im
Institut des Hautes Etudes so oft den Redner lohnen, die Stätten still-
fleissiger Arbeit an den Facultäten nicht: das geographische Institut, wo
unter der Leitung des nimmermüden Elisée Reclus so viele der
schönsten Landkarten entstehen, das zoologische Laboratorium, wo
mein gelehrter Freund Scherbanow, der bulgarische Bauernsohn, mit
geduldiger Emsigkeit Flohkrebse und anderes Kleinvieh mikroskopirt,
das physikalische Institut, wo Louis de Brouckère sich an der scheinbar
unabänderlichen Gesetzmässigkeit aller Naturvorgänge erfreut; denn er
liebt das Gesetzliche, in der Physik wie in der Socialpolitik. Aber dieser
friedliebende, in Erscheinung und Manieren so durchaus salonfähige
junge Socialdemokrat ist doch schon sechs Monate im Gefängniss zu
Saint-Gilles gesessen und musste Düten kleben — wegen antimilitärischer
Propaganda.

Noch ist die Zahl der eingeschriebenen Facultätshörer an der
Université nouvelle eine ziemlich bescheidene; inländische Studenten,
die sich eine rasche und glänzende Carrière sichern wollen, wohl gar
auf hohe Staatsämter aspiriren, ziehen ihr die altliberale oder noch
besser die clericale Parteiuniversität vor. Die Université nouvelle hat
den Staat gegen sich; der Staat vertritt ja, in Belgien wie anderswo,
die absterbende Vergangenheit. Aber was diese Hochschule ohne Zopf
der Zukunft bedeutet, als Freistätte für culturfördernde neue Lehr-
meinungen; wie entwicklungsbeschleunigend es wirken muss, wenn
hunderte von künftigen Aerzten und Advocaten, Lehrern und Schrift-
stellern, Chemikern und Technikern dazu erzogen werden, all ihre
geistige Kraft nicht nur in den engen Kammern ihres Berufes, sondern
auch in der freien Atmosphäre reiner, universeller Interessen auszugeben,
— das wird die Zukunft lehren.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 422, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0422.html)