Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 421
Die »Neue Universität« in Brüssel (Gumplowicz, Dr. Ladislas)
Text
Sardinenbüchse nach den geheiligten Häuptern der Deputirten geworfen.
Nun würde man es zwar höchst unlogisch finden, wenn etwa dem
Katholiken Professor Schlesinger die Lehrbefugniss entzogen würde,
weil hinten in Sinabelkirchen ein katholischer Bauernbursch seinen
Rivalen beim Fensterln erschossen hat; den Anarchisten gegenüber
hört sich aber bekanntlich die Logik auf, und so verkündete denn der
Verwaltungsrath der »freien« Universität zu Brüssel, die Vorlesungen
von Elisée Reclus seien »verschoben«.
Diese verlogen-höfliche Formel täuschte Niemand. Ein Sturm der
Entrüstung erhob sich in allen betheiligten Kreisen. Es regnete Pro-
teste und Demonstrationen; die Rührigsten waren die socialistischen
Studenten. Hector Denis nahm Partei für die Demonstranten; der
Verwaltungsrath nöthigte ihn, seine Demission als Rector zu geben.
Sein Nachfolger wurde ein schneidiger, schnoddriger liberaler Jurist,
der mit Massenrelegationen vorging. Aber die Unruhen dauerten fort.
Abermaliger Rectorwechsel, Schliessung der Universität. Die oppo-
sitionellen Professoren eröffneten ostentativ provisorische Lehrcurse
ausserhalb der Anstalt. Elisée Reclus selbst kam über Einladung der
Studenten nach Brüssel und hielt seine ersten Vorlesungen unter massen-
haftem Zulauf in einem Saal, den ihm eine Freimaurerloge zur Ver-
fügung stellte.
Nun freilich zog der Verwaltungsrath mildere Saiten auf und
machte die Relegationen rückgängig. Aber die Opposition hatte allen
Grund, dem Landfrieden nicht zu trauen.1) Und der Gedanke reifte in
den Köpfen, die That Verhaegen’s zu erneuern. In einer am 12. März
1894 abgehaltenen Sitzung beschloss man die Gründung einer neuen
Universität.
Schon im October 1894 wurde die Université nouvelle thatsäch-
lich eröffnet, und zwar zunächst die juristische und philosophische
Facultät; es folgte die Errichtung einer medicinischen und naturwissen-
schaftlichen, endlich die einer technischen Schule. Sehr bemerkenswerth
ist, dass für die Juristen ein obligates Colleg über Biologie eingeführt
wurde. Man will, dass die künftigen Richter und Anwälte nicht bloss
von ihren Paragraphen etwas verstehen, sondern auch vom Wachsen
und Werden lebendiger, fühlender Organismen.
Den Facultäten stand von Anfang an das Institut des Hautes
Etudes zur Seite; dort werden Vortragsserien gehalten, die nach ver-
schiedenen Richtungen über den Lehrplan der Facultäten hinausgehen
und auch nichtakademischen Hörern zugänglich sind. Dieses Institut
hat sich als eine freie Tribüne für eine Reihe vorgeschrittener Geister
bewährt. Hier lehrt Elisée Reclus; hier lässt Elisée Reclus den Glauben und
Aberglauben alter und neuer Völker gleichsam in bunten Wandel-
bildern vorübergleiten; hier erzählt Georges Eekhoud, der leidenschaft-
liche Dichter, von seinen kraftgenialischen, verwegen-ketzerischen Lieb-
1) Genauere Angaben über all diese Vorgänge enthalten die Aufsätze von
Edmond Picard in der »Société Nouvelle« (jetzt »Humanité nouvelle«).
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 421, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0421.html)