Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 414
Text
Von Anton Smital ().
Jenny war ärgerlich gestimmt; um ihrem Missmuth Ausdruck zu
geben, kehrte sie ihrem Coupegenossen den Rücken und sah beharrlich
zum Fenster des dahineilenden Zuges hinaus.
Der arme Mann konnte wahrlich nichts dafür, dass Jenny, die
hohe, schlanke, blonde Jenny, übler Laune war. Er hatte wohl grosse,
rothe Hände; aber diese mächtigen Schaufeln waren, nach dem Aus-
druck des gutmüthigen, bärtigen Gesichtes zu schliessen, weit eher
geneigt, jedes Hinderniss, das sich der schönen Mitreisenden entgegen-
stellen würde, zu beseitigen, als ein solches herbeizuschaffen. Gleich-
viel, für die stolze Tochter des Ministerialraths waren die rothen Hände
ein Greuel; sie vermochte es nicht über sich zu bringen, den schüchternen
Anknüpfungsversuchen des Mannes, dessen Augen förmlich mit ihrem
üppigen Haar kosten, selbst nur mit einer nichtssagenden Verbindlich-
keit entgegenzukommen.
Jenny presste die Lippen aufeinander und drückte zum Ueber-
fluss das Taschentuch an die Wange. Zerfallen mit sich selbst und mit
allen Menschen, verfolgte sie starren Blickes die Umrisse der Hügel-
kette, längs welcher der Zug nun schon seit mehr als einer Stunde
dahinfuhr.
Warum war sie so herrlich, so auffallend schön? Warum floss
an ihrem wunderbaren Leib das duftige Kleid in so berückendem
Faltenwurf herab? Und warum hatte Jenny, die doch unter tausend
Mädchen als eine blendende, die Sinne verwirrende Erscheinung her-
vorstach, nicht einmal so viel Mitgift zu erwarten, als hingereicht
hätte, um einen von den Männern, die ihr, wo sie sich zeigte, trunken
nachblickten, mit gutem Recht für sich beanspruchen zu dürfen?
Allzugrosse Schönheit thut dem Mädchen nicht gut, dachte Jenny
verbittert, und sie rief sich den Verlauf des gestrigen Abends, an dem
ihr die unangenehme Wahrheit wieder einmal zu vollem Bewusstsein
gelangt war, ins Gedächtniss zurück
Es war auf einem Ball in der Provinzstadt. Die Gäste waren
distinguirt genug, um es Jenny, die mit der Familie ihres Onkels ge-
kommen war, möglich zu machen, die hohe Anmuth und den köst-
lichen Reiz ihrer Erscheinung voll zur Entfaltung zu bringen. Da gab
1) Wir veröffentlichen hiermit eine bisher ungedruckte Arbeit von Anton
Smital, einem hervorragend begabten Schriftsteller, der im vorigen Jahre ver-
schieden ist. Ein Kreis von Verehrern der Smital’schen Arbeiten beabsichtigt eine
Herausgabe seiner verstreut veröffentlichten Skizzen. Wir verweisen schon heute
auf dieses werthvolle Project.
D. R.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 414, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0414.html)