Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 413

Die wandernden Kreuze (Eekhoud, Georg)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 413

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DIE WANDERNDEN KREUZE. 413

Spitales noch zu denen des Kerkers gesellen, starben ganze Zimmer
aus, all das Bettelvolk, Greise und Jünglinge.

Dort draussen im Haidesand hatten die Pflanzer des Todes nichts
zu thun, als die Erde umzugraben und zu häufen, die Kreuze ein-
zusetzen und auszureissen. Aber wie sehr sie sich auch plagten, die
Pest feierte noch weniger als sie und sandte ihnen Karren auf Karren
menschlichen Düngers hinaus. Meine zwölf schwarzen Raben waren
niemals so beutegierig gewesen!

Die Verheerung war derart, dass der Director des Arbeitshauses,
um die ehrsamen Dörfler der Umgebung nicht zu beunruhigen, an-
ordnete, diese Massenbeerdigungen nur des Nachts vorzunehmen.

Aber der administrativen Fürsorge zum Trotz waren die auf der
Haide einsam nachtwachenden Hirten Zeugen grauenvoller Erschei-
nungen.

Die langsamen, feierlichen Wanderkreuze begannen eines Nachts
wie entsetzt zu laufen. Sie eilten so sehr, dass sie kaum Zeit fanden,
die frisch aufgeworfenen Hügel zu berühren. Sie stolperten gegen die
Gräber, schlugen mit den ausgebreiteten Armen um sich, fielen nieder,
um sofort wieder aufzuspringen. Und ihre tückischen Fackelträger, die
Irrlichter, freuten sich ihrer Luftsprünge und Purzelbäume, statt sie zu
beschwichtigen und zum Stehen zu bringen, sie steigerten ihr Ent-
setzen bis zum Aeussersten, indem sie dieselben mit fahlen Blitzes-
schlangen umringelten.

Heute noch, wenn in den Spinnstuben dieses Wunders gedacht
wird, beten die Spinnerinnen ein Vaterunser und ein Ave maria für
die armen Seelen im Fegefeuer, und die beherztesten Burschen ziehen
fieberhaft Rauchwolken aus ihren langen holländischen Pfeifen.

Indessen, seit die Sterblichkeit wieder eine normale
geworden ist
, wie es im amtlichen Berichte heisst, haben die
Kreuze ihre gemessene Haltung wiedergewonnen, sie schreiten langsam,
ergeben «

»Ja,« murmelte ich nun, und mein Blick liebkoste fast mit
Heimweh die violette Haide und den Hain der wandernden Kreuze;
»ja, erinnert Euch der Verse des Dante: Tacendo e lagrimendo al passo
che famo le letane in questo mondo!«


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 413, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0413.html)