Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 412
Text
Von Georg Eekhoud (Brüssel).
Uebersetzt von Marie Lang.
Wir rollten mühsam in den Geleisen der sandigen Strasse und
hatten schon lange das beängstigende Gebäude der Strafanstalt wahr-
genommen, als mein Begleiter mit der Spitze seiner Peitsche auf einige
inmitten der Haide aufgepflanzte schwarze Holzkreuze hinwies.
»Der Friedhof der Sträflinge« bemerkte er und fügte lächelnd
hinzu: »Es sind dort zwölf Kreuze. Es hat nie und wird nie um eines
mehr dort geben Saubere Verwaltung!«
Dann zog er die Zügel straffer und sagte ernst: »Erst hier ver-
sinkt der Vagabund in seinen ersten guten Schlaf. Die Bienen summen
ihm ihre süssen Schlummerlieder, und die Natur hüllt ihn in Violett
— die zur Trauer um Könige erwählte Farbe — das Grab des aller-
niedrigsten der Bettler!
Wie vieler Lumpen abgestreifte Hüllen befruchten diesen unge-
pflegten Grund; verwüstete, magere Leiber verwitterter Landstreicher
oder köstliches Fleisch von Novizen Ebensowenig als das Fallbeil
die Häupter der Guillotinirten zählt, geben diese zwölf Kreuze die
Zahl der Hügel an, denen sie vorübergehend dienten Bei jedem
Todesfall entwurzelt der Todtengräber das Kreuz des ältesten der
zwölf letzten Todten und setzt es auf das neue, unbekannte Grab
Sie wissen besser als ich, wie sehr der Bauer dieser Gegend zum
Wunderglauben neigt. So haben denn auch die Bewegungen der Kreuze
in der Ebene seine Einbildungskraft erregt. Er behauptet, der unstete,
widerspenstige Geist des verscharrten Gesindels habe sich durch eine
teuflische Kraft dem Erlöserzeichen mitgetheilt, das ihre irdischen
Ueberreste schirmen sollte. Aus eigenem Antrieb rücken diese Kreuze
eines nach dem andern vor, um über die Haide zu ziehen. Schweifende
Kreuze, Kreuze ohne Ruh’! Sie wandern über die verzauberte Haide,
wie die Landstreicher und die Geächteten in den Gefängnisshöfen
umherirrten oder in der Tretmühle eingespannt kreisten. Der Bauer
hat ihnen den vielsagenden Namen gegeben: die wandernden Kreuze.
Ich selbst, wenn ich sie in Dämmerstunden, den Mitschuldigen
der Wunder und Hallucinationen, erblickte, verwechselte sie häufig mit
einer Schaar gesättigter Raben, die sich fröstelnd aneinander drücken.
Diese Aehnlichkeit behexte mich besonders vor drei Jahren
während einer Typhusepidemie, welche das grosse Heerlager der Parias
zu entvölkern drohte. Im Lazareth, dem düstersten von allen Räum-
lichkeiten des Arbeitshauses, weil sich dort die Schrecknisse des
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 412, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0412.html)