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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 411

Text

»STUDIA LA MATEMATICA« 411

bloss nicht sentimental werden lassen. Er ist keusch. Er muss sich
seiner Begierden entledigen, ehe er Begierden hat. Er macht ein Ver-
langen daraus: ein Ach! ein Oh! und sonst nichts. Eine halbe Stunde
Umarmung. Das ist die ärgste Enthaltsamkeit.

Die Zeit kommt, wo Napoleon ein Idyll sucht. An einer Lebens-
wende. Es ist Frau Walewska. Er hat Stunden todtzuschlagen, Pläne
auszubrüten, auszureifen, etwas zu verwischen. Er muss die segnen, die
ihm widersteht, die ihm Glut und Aufregung, Blumensträusse und Sex-
tanerbriefe erlaubt. Doch er vergisst.

Und er wollte Kinder haben.

— Jean-Jacques dagegen liess seine Kinder in Findelanstalten
stecken: denn er hatte köstliche Worte gefunden, die für ihn die köst-
lichsten Qualen gewesen wären und die köstlichsten Unruhen, und die
ihm zu süsse Leiden verursacht hätten. Es wäre reizend gewesen.
Leiden! Leiden! Ach! Botaniker.

— Für Napoleon war ein Kind, ebenso wie ein Weib oder ein
Land, eine Gleichung. Immer eine Berechnung, und eine Berechnung,
die nicht widerwärtig war. Ach! Wie hat Hortense Unrecht, auszurufen:
»Wie, wenn er mich wie seine Tochter behandelte; wenn es für mich
so süss und so einfach war, den Vater, den ich verloren hatte, wieder-
zufinden, waren so viel Aufmerksamkeit und Vorliebe nur Politik und
keine Zärtlichkeit! «

— Kleine?

— Kleine Julietta?

— Womit beschäftigen wir uns?

— Aber

— Herr Frédéric Masson hatte das Alles vor dir gesagt

— Und vor dir.

— Was liegt daran?

— Ach! Julietta!

— Ach! Kleine! das ist Literatur! Wahrhaftig, ich bedauerte
nicht am meisten den Verlust von Zanetto. Am meisten sehnte ich
mich nach Herrn de Brémont zurück, nach einem Schiffscapitän oder
einem Matrosen, die ich naiv und gierig gekannt hatte.

Und du, Kleine, du liebtest und du suchtest Jemanden — der
dich rein geküsst, geschlagen oder verschmäht hatte. Aber die grossen
Männer! Die Abenteurer! Das hat nichts mit den Weibern zu thun.
Die Julietta von 1744 hatte recht: »Lasciate le donne e studia
la matematica
.« Mathematik studiren und von den Weibern lassen.
Noch besser! Sie stets vermieden haben! Keusch geblieben sein, keusch
bleiben, wieder keusch werden! Ach! sie sollten immer keusch sein
— immer ganz einfach.

Und wir, Julietta? Wir?


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 411, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0411.html)