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Sie hätten sich nicht geliebt. Es war gewiss gegen seinen Willen, und
die Schuld liegt an der Zeit, am Jahrhundert, wenn mein kleiner Corse
dem Einflüsse deines Schweizers unterworfen war, wenn er mit seiner
Stimme schrie, wenn er nach ihm schrieb. Aber diese beiden Kinder,
beide auf die Welt losgelassen, um sie zu besitzen, hatten dasselbe
Leben und dasselbe Ende. Kellermeister oder Kaiser, Rebell oder
Tyrann, Dichter oder Haudegen, ihr seht euch gleich. Und doch ziehe
ich meinen kleinen Officier des Palais Royal vor, weil er jung und
kurz war, weil er mich besass.
— Kleine, du bist ein Kind. Maria Louise ersetzte deinen Corsen
durch Herrn von Neipperg, der einäugig war, und den sie leidenschaft-
lich liebte, und Therese Levasseur lag keuchend und unterworfen zu
den Füssen eines unbekannten Stallknechtes. Und das Alles sind
Sinnestäuschungen, die uns zeigen sollen, dass wir nicht für Männer
von Genie und Leidenschaft geschaffen sind, und sie nicht für uns.
Ach, Kleine! glaubst du nicht, dass der Officier, den du den Holz-
galerien entlang antrafest, mein Zanetto war, mein Zanetto, der in-
zwischen, seit seinem Tode, ein wenig Mathematik studirt hatte? Ich
liebe die Seelenwandlung nicht. Es wäre doch so leicht anzunehmen,
dass Napoleon ein corrigirter Jean-Jacques war, ein Jean-Jacques mit
mehr Strenge, mehr Glück und auch mehr Unglück! Aber ich ziehe
Zanetto vor, weil er geweint hat.
— Napoleon hat nicht geweint.
— Er brauchte nicht zu weinen. Er hielt sich nicht bei den
Frauen auf. Eine Umarmung, ein Seufzer des Genusses — und wieder
nahm er seinen Lauf. Aber Jean-Jacques glaubte immer, sein Leben sei
an seinem Ende. Er vertrieb sich die Zeit mit unendlichem Sterben,
dem er unendlich zuhörte. Er war keusch. Er liebte das Leiden. Für
ihn war ein Weib — immer — eine Gelegenheit, über sich selbst zu
weinen. Weinen! weinen! Ach, Botaniker du!
— Napoleon hatte keine Zeit zum Leiden und zum Weinen.
Aber auch er war keusch. Herr Pierre Louys stellt sich ihn nicht
enthaltsam vor. Er hat unrecht. Er verachtete die Courtisanen. Er
glaubte, ihnen nicht einmal eine Gunst zu erweisen, indem er sie um-
armte. Er entledigte sich einer kleinen Wallung und warf ein bischen
Zärtlichkeit, ein bischen Unruhe von sich ab. Er regulirte sich. Ihr
Frauen, die man die geheime Treppe der Tuilerien hinaufsteigen oder
auch nicht hinaufsteigen sah, schwerfällige Grassini, furchtsame Duches-
nois, empfindliche Bourgoin und du, Georges und die Vorleserinnen
und die Anderen, Ihr Alle erhieltet nichts von Bonaparte. Er drückte
euch an seine Brust, zerstreute Sinnlichkeit, er suchte in euch Alles
zu vergessen, er suchte einen Augenblick Brutalität, um euch dann
fortzuschicken. Da ist das Vierzigfranken-Stück, das er Fräulein George
anbietet, weil sie das Porträt des Helden haben will: »Man sagt, dass
er mir ähnlich sieht,« und dann noch ein oder zwei Capitel des Herrn
Frédéric Masson. Er liebt nicht. Er »befriedigt« sich nicht. Er sucht
bloss Fleisch, um es zu hätscheln, um es zu verwunden. Er will sich
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 410, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0410.html)