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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 409

Text

»STUDIA LA MATEMATICA.« 409

ist, dass das Leben nicht lyrisch sei, und weil du mir’s übel genommen
hättest, weil ich, deiner Thränen halber, eine ehrliche Frau geworden
wäre.« Aber ich habe dich nicht wiedergesehen und sollte dich nicht
wiedersehen. Du studirtest nicht Mathematik. Als Botaniker erinnertest
du dich schmerzhaft, dass du eine schmerzhafte Blume gefunden hattest,
und dass sie geflohen war — und das ist Alles.

— Der kleine Officier des Palais Royal hatte hingegen Mathe-
matik studirt. Als er mich fand, ohne mich zu suchen, bei den eisernen
Thoren, hatte er seine Zärtlichkeit bemessen und berechnet sowie seine
Ansprüche und seine That. Er gab mir nicht zu viel Worte, nicht zu
viel Verachtung, nicht zu viel Liebe. Dann ging er fort, sehr bündig.
Seine Jugend war schneidig, seine Brutalität nüchtern. Und seine
Leidenschaft war bestimmt. Er ging fort, und ich sehnte mich nicht
nach ihm. Ich bin für ihn ein gewünschter, nicht zu sehr gewünschter
Zufall gewesen, eine Stunde Herzenserguss, zwei Monate Ruhe und
fruchtbarer Kälte. Ach, die grossen Männer!

Du kleiner Artillerieofficier, du warst nicht schlecht gegen mich.
Du nanntest mich nicht »Prostituirte«, und du beklagtest nicht zu sehr
mein trauriges Los. Du nahmst mich, wie ich war, geschändet, ohne
Cynismus, traurig und lächelnd, mit dem Lächeln meines Standes. Und
du warst froh, zu sehen, dass ich sehr jung war: du warst sehr jung,
du drücktest mich in deine dürren Arme, und du fühltest auf deinen
Lippen eine brennende Müdigkeit — aber du hattest Mathematik
studirt. Ach! Du getrautest dich nicht Botaniker zu sein, du kleiner
Mathematiker. Anhalten, seine ganze Zärtlichkeit erschöpfen, und sein
ganzes Grauen, sich ganz dahingeben, und die Frau sich ganz dahin-
geben lassen, nein. (Und ohne Ausrufungszeichen.) Und das kleine
Mädchen, das vorbei geht, auf die Stirne küssen, bevor man es hat
vorbei gehen lassen, das sah zu einer Zeit, als der russische Roman
noch nicht erfunden war, genug einem englischen Romane gleich, war
aber ziemlich unnöthig. Du warst im Alter von achtzehn Jahren. Du
warst arm. Du fühltest dich in der Armee sehr unbehaglich, und du
hofftest nicht viel literarischen Ruhm. Du besassest nichts als deine
gierige und brennende Seele, deine Seele aus Lava und Flamme, deine
Seele voll Raubgier und Unendlichkeit. Dein Zanetto, Julietta, hatte
Zeit zum Weinen. Er war etwas mehr als dreissig Jahre alt und hatte
schon gelitten, viel gelitten. Er hatte keine Eile, seinen Schmerz und
seinen Eifer den Menschen mitzutheilen: er bestand auf eine einsame
Lehrzeit und war noch nicht schwach und verrückt genug, noch nicht
genug von Elend, Hass und Liebe erfüllt und verzehrt, um seine Seele,
die in aller Seelen verbreitet war, zum Beben zu bringen. Er war
Botaniker und auch ein bischen Astrolog, er war derjenige, welcher
den Himmel in den Blumen sterben sieht, und die Blumen dem Himmel
entgegenzittern. Er war derjenige, der Alles verlangt und nichts will.
Der Officier des Palais Royal war derjenige, der nichts verlangt und
Alles will. Welcher von beiden hatte Recht? Beide verstanden es, zu
gemessen und zu leiden, und ich vermuthe, dass sie Brüder waren.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 409, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0409.html)