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Unglücklicher! Du warst das Gespenst, das vor meinem Gespenst
hinziehen sollte, das weint, um mich zum Weinen zu bringen. Du
sahst meine Thränen nicht. Ich ging fort, um dich nicht fortgehen zu
sehen. Und ich weiss nicht, was aus mir geworden ist. Deine Thränen!
Deine Thränen! Ich wollte mich verschmäht sehen! Ich wollte dich
albern und impotent sehen. War es, weil ich dich brutal und schnell
verlangte?
Ich weiss es nicht. Du weintest! Du weintest, mich, das Ding
des geringsten Kauffahrteischiffscapitäns, zu sehen. Litt ich später noch
die Liebkosungen der Matrosen und der Unbekannten? Es ist wohl
möglich, und es kann auch sein, dass ich über weinende Leute gelacht
habe. Ich muss noch verachtender gewesen sein, und gemein sinnlich,
mehr denn je, und es war deshalb, weil ich dich immer vor mir sah,
mein Zanetto, der du weintest und eisig bliebst! Studia la mate-
matica! Ach! ach! was wollte ich eigentlich sagen? Es war ein
Mädchenwort, nur ein Mädchenwort! Doch auch das Wort der Leiden-
schaft, welche das Rechnen hasste, und geliebt werden wollte im
Mondschein und im Scheine des Meeres, ohne Worte und ohne Ende,
ohne Literatur und ohne Orthographie. Mädchenwort, gesprochen von
einer, welche die Tugend hasst, die Reinheit und ihre Klagen hasst —
und welche sie liebt. Ach! Zanetto, der du dich erniedrigtest, vor
meiner erniedrigten Schönheit, der du weintest für mich, die nicht
weinte, und littest für diejenige, welche sich bemühte nicht zu leiden.
Ach! Zanetto, der du mehr Genuss hattest nicht schmutzig zu ge-
messen, und dessen Verwirrung so gross war, dass sie mich auf immer
verwirrte, Zanetto, du studirtest nicht Mathematik. Du warst der un-
glückliche Botaniker, der die Blumen zittern sieht, und sie nicht pflückt,
der sich, den Strassen entlang, verwundert — nicht zu stark — dort
wo Wintergrünblumen blühen, damit diese Blumen noch anderen, un-
wahrscheinlichen Botanikern, welche über diese Strasse ziehen werden,
gefallen möchten. Du warst der unglückliche Botaniker, der auf dem
Busen der Frauen Schmerzen blühen sieht und unabsichtlich weint, und
doch viel, viel Thränen vergiesst, weil die Blume verdorben ist und in
einer unbewussten Todesqual verwelkt.
Studia la matematica! Ich war die gemeine Stimme, der
Schrei der Mittelmässigkeit, ich war die Menge, ich war das Böse, ich
war das Nichts. Ich beleidigte dich, Zanetto — und du suchtest nach
mir, weil du gut warst, und deine Seele sanft und bescheiden war.
Du suchtest nach mir, um mir zu zeigen, dass du kein kläglicher Gott
warst, und dass du, gleich einem anderen Mann sein konntest, das
unfruchtbare Thier, das geniessen will — weshalb? Ich suchte dich
nicht. Während ich floh, glaubte ich dich wiederzufinden — wo? —
zu dir hinzutreten und zu sagen: »Zanetto, ich bin nicht das Thier,
das du dir vorstellt. Ich bin nicht der Gegenstand der Lust und der
Erniedrigung, dem du aus Güte opfern willst. Ich bin ein armes
Mädchen, um welches du geweint hast und das deiner Thränen würdig
ist. Ich habe mein Gewerbe weitergeübt, weil es eine Nothwendigkeit
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 408, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0408.html)