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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 407

Text

»STUDIA LA MATEMATICA.« 407

Ich sagte zu ihm: »Kommen Sie. Wir wollen zu ihnen nach Hause gehen.
Kommen Sie, dass wir uns wärmen und Sie Ihre Lust befriedigen.«
Wir gingen hin, wir wärmten uns, und er befriedigte sich.

— Wir, wir brauchten uns nicht zu wärmen; in Venedig ist es
nicht kalt. Das Meer lag vor uns, das Meer, wo ich ihn geküsst hatte,
unverhofft, und wo er von meinem Blick und meiner Sprache berauscht
wurde. Wir wärmten uns nicht und seine Lust befriedigte er nicht;
er weinte über diese Lust — im Voraus, er weinte unfruchtbar, und er
wurde weich.

— Der meinige wurde nicht weich. Er hatte eine Anstrengung
gemacht, um zu scherzen, sich zu wundern, um zu verachten und zu
trösten. Er machte keine Anstrengung, um zu lieben; er liebte und ging.

— Er ging, traurig und untröstlich, weil ich im Zimmer herum-
geschlendert war und die Geringschätzung des Ruhebettes auf ihm
gelastet hatte. Am dritten Tage kam er zurück, weil ich ihm dies
Stelldichein gegeben hatte und er mein Lachen gesehen hatte. Er fand
mich nicht und klagte über meinen Verlust, er klagte. Ich nannte ihn
»Zanetto«.

— Ich nannte ihn »Monsieur«.

— Er war klein, er war mager, und seine Jugend war ohne
Anmuth. Er war schlecht gekleidet. Etwas mehr als gewöhnlich liess
er mich den Verlust des Officiers bedauern, der mich in Nantes, in
der Bretagne entehrt hatte. Und das ist Alles.

— Was soll ich von meinem Zanetto sagen? Ich weiss nicht
mehr, ob er klein oder gross, ob er elegant oder schäbig war. Ich
habe während meines Lebens und nach meinem Tode Bilder, Statuen,
Reliquien und Büsten gefunden. Ich habe sie angeschaut, und ich
erinnere mich nur noch, dass ich immer Lust hatte, zu weinen, weil
ich ihn hatte weinen sehen. Ich hatte mich ihm um den Hals geworfen,
ein wenig zum Spielen, ein wenig, weil er mir gefiel; aber warum hatte
er mir gefallen? Ach, ich weiss es nicht mehr, ich weiss es nicht mehr!
Vielleicht war ich angezogen durch diesen Mann, der bei mir weinen
und vor meinen Reizen schwach werden sollte. Er versagte vor mir,
ich wunderte mich. Ich lachte über ihn, ich lachte über mich und wollte
ihn zum Lachen bringen; Er weinte, er weinte über mich und über die Welt.
Ich wurde gereizt. Ich ging zum Fenster. Er ging zum Fenster. Ich ging
davon weg und schlenderte im Zimmer herum. Und indem ich jede
Zurückhaltung, jede Scham, jede Gemüthsbewegung, all diese zerstreute
Rührung, welche mir von Zanetto und von der Welt kam, zu ent-
fernen versuchte, sagte ich ihm kalt und verachtend: »Zanetto, lascia
le donne e studia la matematica«.

Unglückliche, die ich war! Ich wollte durchaus nicht verstehen!
Ich wollte nicht bemerken, dass Zanetto allein die Frauen liebte, dass
er allein sie nicht verlassen konnte, dass er sie immer auf seinem
Wege finden sollte, hier mitleidig, dort spottend, aber beständig um
ihn herum, damit er leide, damit er lebe.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 407, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0407.html)