Text
Von Ernest La Jeunesse (Paris).
Autorisirte Uebersetzung.
Im Garten des Palais Royal. Da denken wir an das kleine
Mädchen aus der Sammlung des Herrn Frédéric Masson.1)
Es besitzt immer noch »seine grosse Jugend, seine bleiche Gesichts-
farbe und seine schwache Gestalt«.
Und es ist ihm kalt.
Es steht in einer Ecke des Palais Royal, von dunklem Grün
umgeben, in einer Ecke, wo der Stein weich erscheint.
Und das kleine Geschöpf »weiblichen Geschlechts« scheint auf
Jemanden zu warten.
Es kommt Jemand. Es ist kein kleiner Officier, dem sie, auf
seine Bitte hin, erzählen wird, auf welche Weise sie ihre Jungfrauschaft
verloren hat, es ist eine Frau, »ein junges Mädchen von blendender
Schönheit, sehr kokett und sehr flink«.
Das kleine Mädchen vom Palais Royal ist sehr traurig; es
friert. Und sie begrüsst höflich, fast respectvoll die schöne Dame, die
nicht friert.
Die schöne Dame gibt ihm seinen Gruss zurück — auf italienisch.
»Ihre Manchetten und ihre Halsumfassung sind mit Goldfäden besetzt,
welche rosafarbener Flitter ziert.«
Sie spricht.
Ich heisse Julietta, sagt sie. Ich bin die Julietta von Jean Jacques
Rousseau.2)
— Ich weiss nicht, wie man mich nennt, sagt das kleine Mädchen
aus der Sammlung des Herrn Frédéric Masson. Ich weiss, dass
ich sehr viel genannt werde. Und das kommt daher, weil ich an dieser
Stelle mit einem schwarz-gelben kleinen Officier geplaudert habe, dessen
Namen ich ein Jahrhundert später erfuhr. Es war Napoleon Bonaparte.
1) In dem ersten Capitel seines »Napoleon et les Femmes« citirt
Frédéric Masson die Schilderung, welche der achtzehnjährige Corse von seiner
Begegnung mit dem »Mädchen des Palais Royal« gab. Die Anekdote ist zu be-
kannt, als dass näher darauf hingewiesen werden müsste. H. A.
2) Rousseau spricht in dem siebenten Buch seiner »Bekenntnisse« von
dem Abenteuer, das er 1744 in Venedig mit dieser Julietta hatte. Sie warf ihm,
ihn enttäuscht zur Thüre hinauswerfend, das verächtliche: »Lascia le donne
e studia la maternatica«zu. Die beiden oberen in Anführungszeichen stehenden
Sätze sind wörtlich Rousseau’s »Bekenntnissen« entnommen. H. A.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 406, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0406.html)