Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 420
Die »Neue Universität« in Brüssel (Gumplowicz, Dr. Ladislas)
Text
gewordener Meerkrebs, und entarteten zu einer protzigen, bornirten,
unduldsamen Mastbürgerclique.
Auch die freie Universität wurde von dieser rückschrittlichen
Metamorphose ergriffen. Sie wurde eine ziemlich unfreie Lehranstalt,
deren Verwaltungsrath anfing, sich immer ängstlicher gegen das Auf-
kommen neuer ketzerischer Lehrmeinungen zu wehren. Um so toleranter
war man indessen gegen clerical schillernde Lehrkräfte; man sehnte
sich eben mehr und mehr nach künstlichen Bollwerken gegen die
Hochfluth des Socialismus.
So kam es, dass man die Lehrkanzel der Psychologie dem letzten
überlebenden Exemplar einer vorsündfluthlichen Philosophenspecies an-
vertraut hatte — dem letzten lebenden Bekenner des Panentheismus.
Man beachte wohl: des Pan-En-Theismus. Der ehrwürdige alte Herr
bemühte sich zu wiederholtenmalen, einen Jünger seines Bekenntnisses
heranzuziehen, der als sein Nachfolger den Panentheismus künftigen
Generationen übermitteln sollte; es misslang jedesmal. Endlich glaubte
er einen Apostel gefischt zu haben; unglücklicherweise machte der
fragliche junge Docent eine Studienreise nach Deutschland und kam
als Positivist zurück. Nun rief der Alte den Verwaltungsrath der Uni-
versität gegen ihn auf, und der junge Mann wurde als Ketzer ge-
massregelt. Die Folge war eine stürmische Studentendemonstration
gegen den Panentheisten. Der Rector hatte die Dummdreistigkeit, die
Polizei gegen die Studenten zu Hilfe zu rufen. Dies rief eine grenzenlose
Erbitterung hervor, vor welcher der Verwaltungsrath die Waffen streckte.
Der Rector, als der Hauptschuldige, wurde von seinen Collegen zur
Demission genöthigt und verduftete ins Ausland.
Dies geschah 1893. Mit diesem Scharmützel war der Krieg er-
klärt zwischen der reactionären alten Garde und dem jungen Nach-
wuchs, der in der Philosophie positivistischen, in der Politik demo-
kratischen und socialistischen Neigungen huldigte. Bald ereignete sich
ein neuer Zwischenfall. Der Panentheistengreis hatte endlich einen will-
fährigen Schüler gefunden. Der strebsame junge Herr habilitirte sich —
mit einer Schmähschrift gegen die socialistischen Professoren Hector
Denis und Guillaume de Greef. Die Studenten demonstrirten mit aller
Energie gegen den Angreifer; auch er wurde fallen gelassen, auch er
verliess Belgien.
Dann aber kam ein Casus, der die Gemüther noch ganz anders
aufregte. Hector Denis hatte es durchgesetzt, dass man Elisée Reclus
als Professor der Erdkunde berufen hatte, den grossen Forschungs-
reisenden und Geographen, den die Welt nebenbei als einen der grund-
legenden Theoretiker des Anarchismus kennt. Während aber Reclus
noch in Bourg la Reine bei Paris weilte, passirte in der Pariser De-
putirtenkammer ein etwas geräuschvolles Intermezzo. Der junge Schuster-
gesell August Vaillant, gleichfalls ein Bekenner des Anarchismus, hatte
nach langen Jahren der Noth und des Elends dem directen Selbst-
mord einen indirecten vorgezogen: er hatte in echt gallischer Lust an
kriegerischen Zerstörungsthaten eine zur Bombe hergerichtete, alte
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 420, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0420.html)