Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 427
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(gleich unaufhörlichem musikalischen Glockenklingen von einem niederen
b bis zum g hinauf) sie der Ausdruck und vielleicht ein nie über-
troffener Ausdruck gewisser ausgesprochener Phasen menschlicher
Krankhaftigkeit waren. (Das Reich der Poesie ist so gross — hat so
viele Wohnungen!) Aber ich fand in Poe’s Prosa den Ersatz in dem
Gedanken, dass (wenigstens für unsere Bedürfnisse und in unseren
Tagen) ein langes Gedicht nicht möglich ist. Derselbe Gedanke hatte
meinen Geist schon früher beschäftigt, aber Poe’s kurze Auseinander-
setzung arbeitete das Resultat aus und lieferte mir den Beweis dafür.
Noch ein anderer Punkt wurde bei Zeiten erledigt, der schon
viel zur Klärung des Grundes beitrug. Ich erkannte von der Zeit an,
wo mein Unternehmen und die Fragen, die ich aufwarf, Gestalt
gewannen (»Wie kann ich am besten meine eigene Zeit und Umgebung,
Amerika, die Demokratie zum Ausdruck bringen?«), dass der Rumpf
und der Mittelpunkt, von dem die Antwort ausstrahlen musste und zu
dem Alles zurückkehren sollte, wenn es noch so in die Ferne schweifte,
ein identischer Leib und Seele, eine Persönlichkeit sein musste — und
nach manchen Betrachtungen und Erwägung kam ich mit vollem Be-
wusstsein zu dem Resultat, dass ich selbst diese Persönlichkeit sein
sollte, ja, dass es gar keine andere sein konnte. Auch empfand ich
klar (ob ich es nun gezeigt oder nicht), dass zur wahren und vollen
Schätzung der Gegenwart beides, Vergangenheit und Zukunft, von
grösster Wichtigkeit sind.
Dies indessen und noch viel mehr hätte weitergehen und doch
zu nichts führen können (ja es hätte fast mit Bestimmtheit zu nichts
geführt), wenn nicht ein plötzlicher, gewaltiger, schrecklicher, sowohl
directer als indirecter Anreiz für einen neuen und nationalen poetischen
Ausdruck mir wäre gegeben worden. Ich kann sagen, es ist gewiss,
dass, obgleich ich schon vorher einen Anlauf genommen, um durch
das Ereigniss des Secessionskrieges und was er mir wie mit Blitzes-
leuchten zeigte, mit den Tiefen der Erregung, die er hervorrief und
tönen liess (und natürlich meine ich nicht nur in meinem eigenen
Herzen, ich sah es genau so gut in anderen, in Millionen), dass nur
aus dem mächtigen Flammenschein und Aufreiz der Scenen und
Gesichte dieses Krieges die endgiltigen Daseinsgründe für einen auto-
chthonen amerikanischen Sang definitiv hervortraten.
Ich begab mich nach dem Kriegsschauplatz in Virginien (Ende 1862),
lebte von da an im Feld — sah grosse Schlachten und die Tage und
Nächte, die auf sie folgten, all die Schwankungen, Düster, Verzweiflung,
widererstandene Hoffnungen und aufgerichteten Muth, den Tod, dem so
bereit ins Antlitz gesehen ward, und vor Allem die Sache — all
die Dinge, die diese düsteren von Agonie erfüllten Jahre 1863, 1864,
1865 erfüllten, die wahren Geburtsjahre (seit 1776—83) dieser hinfort
homogenen Union. Ohne diese drei oder vier Jahre würden meine
»Grashalme«, so wie sind, jetzt nicht existiren.
Aber ich begann mit der Absicht, einige charaktistische Punkte
anzudeuten und bemerklich zu machen, welche, wie ich seither (nicht
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 427, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0427.html)