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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 428

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428 WHITMAN.

damals, wenigstens nicht klar) erkannt, Ausgangspunkte und Lebens-
triebe für diese »Halme« von allem Anfang an waren. Das Wort,
welches ich zunächst dafür brauchen kann, ist »Suggestivität«. Ich
runde und feile wenig, wenn überhaupt; und könnte es meinem Plane
nach gar nicht. Der Leser wird immer seinen Theil zu thun haben,
gerade wie ich meinen hatte. Ich suche weit weniger irgend ein Thema oder
einen Gedanken klarzustellen oder darzulegen, als dich, Leser, in die
Atmosphäre dieses Themas oder Gedankens zu bringen — dort magst
du deinen eigenen Flug verfolgen.

Ein anderes Impulswort ist Kameradschaft für alle Länder und
in einem höheren und ausgesprocheneren Sinne, als es bisher gedeutet
worden. Andere Wortzeichen wären Fröhlichkeit, Zufriedenheit und
Hoffnung. Der wichtigste Zug irgend eines gegebenen Dichters ist
immer der Geist, in dem er an die Bearbeitung der Menschheit und
der Natur geht — die Stimmung, aus der er seine Objecte betrachtet.
Was für ein Temperament und wie viel Glauben zeigen uns seine
Werke? Bis zu welchem neuesten Standpunkt hat er seinen Sang
hinaufgeführt? Welche waren die Ausrüstung und die specielle
»Racigkeit« des Sängers? — welches seine Farbennuancen? Der letzte
Werth aller poetischen Sprecher der Vergangenheit und Gegenwart —
griechischer Aestheten, Shakespeare’s und in unseren Tagen Tennyson’s,
Victor Hugo’s, Carlyle’s, Emerson’s — ist sicherlich in diesen Fragen
enthalten.

Ich meine, der tiefste Dienst, den Gedichte oder irgend welche
andere Schriften jeder Art ihrem Leser erweisen können, ist nicht,
nur einen geistigen Genuss zu gewähren oder etwas schön Ausge-
arbeitetes und Interessantes zu bieten, noch selbst grosse Leidenschaften
oder Persönlichkeiten oder Ereignisse zu schildern, sondern ihn mit
kräftiger reiner Männlichkeit, mit Religiosität zu erfüllen und ihm ein
frohes Gemüth als festwurzelnden Besitz und Gewohnheit zu geben.

Die gebildete Welt scheint seit Menschenaltern immer mehr Lang-
weile empfunden und aufgespeichert zu haben und möchte unserer Zeit
diese ganze Erbschaft anhängen. Glücklicherweise bleibt uns der ur-
sprüngliche unerschöpfliche Vorrath an überschäumender Lebenskraft,
der von Natur in der Race liegt und immer da ist, an den immer
appellirt werden, auf den man sich immer verlassen kann.

Was eine eingeborene amerikanische Individualität anbelangt, so
ist sie, obgleich sie sicherlich in grossen Zügen den klaren und
idealen Typus des Charakters des Westens enthalten muss (der sich
gerade so aus den thätigen, politischen und selbst den geldmacherischen
Zügen der Menschheit in unseren Vereinigten Staaten ergeben muss,
wie auserwählte Ritter, Edelleute und Kriege die Ideale der feudalen
Jahrhunderte in Europa waren), bisher noch nicht gezeigt worden. Ich
habe das Schwergewicht meiner Gedichte von Anfang an bis zu Ende
auf amerikanischer Individualität ruhen und zu ihrer Entwicklung bei-
tragen lassen — nicht nur weil dies eine grosse Lehre der Natur ist,
trotz all ihrer generalisirenden Gesetze, sondern auch als ein Gegen-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 428, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0428.html)