Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 429
Text
gewicht gegen die nivellirenden Tendenzen der Demokratie — und
noch aus anderen Gründen.
Ohne Rücksicht auf alle sichtlichen literarischen und anderen
Conventionalitäten singe ich eingestandenermassen »den grossen Stolz
des Menschen auf sich selber« und lasse diesen Stolz mehr oder minder
ein Motiv in fast all meinen Versen sein. Ich glaube, dass dieser Stolz
für einen Amerikaner unentbehrlich ist. Ich glaube, dass er sich mit
Gehorsam, Demuth, Ehrfurcht und Selbstkritik recht gut verträgt.
Die Demokratie ist durch machtvolle Persönlichkeiten so verzögert
und gefährdet worden, dass ihre ersten Instincte jetzt gerne Alles be-
schneiden, in Uebereinstimmung bringen, abseits Streifende herein-
zwingen, und Alles auf ein todtes Niveau reduciren möchten. Wenn es
die ehrgeizige Absicht meines Sanges ist, eine grosse, geeinte Nation
bilden zu helfen, so ist dies vielleicht zugleich durch die Bildung von
Myriaden von entwickelten und allseitigen Individualitäten gedacht. So
willkommen die Lehren von Gleichheit und Brüderlichkeit und Volks-
bildung sind, eine gewisse Gefahr begleitet sie Alle, wie wir sehen.
Jenes primäre und innere Etwas im Menschen, in den Abgründen
seiner Seele, das Allem Farbe und ihm in ausserordentlich herrlichen
Fällen die letzte Majestät gibt — etwas, was die alten Gedichte und
Balladen der Feudalzeit beständig berühren und erreichen, ja das oft
ihre Hauptgrundlage bildet — scheint durch die moderne Wissenschaft
und die Demokratie gefährdet, ja vielleicht ausgemerzt zu werden.
Die neuen Einflüsse bereiten im Ganzen sicherlich den Weg für
grössere Individualität, als je gewesen. Heute und hier herrscht die
Macht der Persönlichkeit noch immer hinter allen socialen Erscheinungen,
ganz so wie einst. Die Zeiten und Bilder von der Ilias bis Shakespeare
können glücklicherweise nicht wieder realisirt werden — aber die
Elemente muthiger und hochgesinnter Mannheit sind unverändert
geblieben.
Darum sollten der Arbeiter und die Arbeiterin vom ersten bis
zum letzten in meinen Blättern sein. Die Fülle von Heroismus und
Hoheit, mit welchen griechische und feudale Dichter ihre göttergleichen
oder adelig geborenen Charaktere ausstatteten, ja noch stolzere und
begründetere und mit grösserer Fülle als jene hatte ich dem demo-
kratischen Durchschnitt von Amerikas Männern und Weibern zu ver-
leihen. Ich hatte zu zeigen, dass wir hier und heute des Grossartigsten
und Besten fähig sind, ja fähiger, als irgend welche Zeiten der Ver-
gangenheit waren. Ich wünsche auch, dass meine Aeusserungen (so
sagte ich zu mir selbst, als ich begann) in ihrem Geiste Gedichte
des Morgens seien. Sie wurden im sonnigen Vormittag und frühen
Mittag meines Lebens entworfen und zum grössten Theil auch
geschrieben. Ich will, dass sie ebensosehr Dichtungen des Weibes wie
des Mannes seien. Es war mein Wunsch, die ganze Union dieser
Staaten in meinen Sang zu bringen, ohne irgendwelche Parteilichkeit.
Und wenn sie leben und gelesen werden, so muss es ebensosehr
im Süden wie im Norden, ebensosehr längs des Pacifischen wie an
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 429, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0429.html)