Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 430

Text

430 WHITMAN.

dem Atlantischen Ocean, in dem Thal des Mississippi, in Canada, oben
in Maine, unten in Texas und am Strand des Pugel-Sundes.

Von einem anderen Gesichtspunkte sind die »Grashalme« ein-
gestandenermassen der Sang des Geschlechtes und des animalischen
Lebens — obgleich ein Sinn hinter Allem ist, der mit diesen Worten
nicht gewöhnlich verbunden zu sein pflegt, und der gebührend zu Tage
treten wird und Alles in ein anderes Licht und eine andere Atmosphäre
zu heben versucht ist. Von diesem Zug, der in einigen Zeilen absicht-
lich greifbar betont ist, will ich nur das sagen, dass das befruchtende
Princip dieser wenigen Zeilen so sehr meinem ganzen Werke den
Lebensodem gibt, dass, wären diese Zeilen ausgelassen worden, die
ganze Masse der Stücke ebensogut hätte ungeschrieben bleiben können.

So schwer dies sein wird, es ist meines Erachtens eine ge-
bieterische Nothwendigkeit geworden, dass hochstehende Männer und
Frauen gegenüber dem Gedanken und den Thatsachen des sexuellen
Lebens, als einem Grundelement des Charakters, der Persönlichkeit,
aller Seelenbewegungen und als einem Thema der Literatur, eine andere
Stellung einnehmen als bisher. Ich werde die Frage an und für sich
nicht erledigen, sie ist an und für sich gar keine Frage. Ihre Vitalität
liegt gänzlich in ihren Beziehungen, ihren Gestaltungen, ihrer Bedeutsam-
keit — sie ist gleich dem Schlüssel einer Symphonie. Für den, der die
letzten Analogien erkennen kann, durchziehen die Zeilen, auf die ich
anspiele, und der Geist, in dem sie gesprochen sind, die gesammten
»Grashalme«, und das Werk muss mit ihnen stehen und fallen, sowie
der identische Menschenleib und Seele ein Ganzes bleiben muss.

So allgemein gewisse Thatsachen und Symptome der gesellschaft-
lichen Organismen wie der Individuen zu allen Zeiten sind, so ist doch
nach moderner Conventionalität und in moderner Poesie nichts so
selten als ihre einfache Anerkennung. Die Literatur ruft allzeit den
Doctor zur Consultation und zur Beichte und gibt stets ausweichende
Redensarten und verhüllende Verschweigungen an Stelle jener »heroi-
schen Nacktheit«, auf welche allein eine wahre Diagnose ernster Fälle
gegründet werden kann. Und mit Bezug auf Ausgaben meiner »Gras-
halme« in kommenden Zeiten (wenn solche veranstaltet werden sollten)
benütze ich die Gelegenheit, um diese Stellen nochmals mit der ge-
festeten Ueberzeugung und wohlerwogenen Wiederholung von dreissig
Jahren zu bekräftigen, und ich verbiete hiemit, so weit mein Wort
reichen kann, sie jemals auszulassen.

Und noch eine Absicht hatte ich, die Alle einschloss und über
und unter allen Anderen einherlief. Immer, seitdem, was man Ge-
danken oder Knospen von Gedanken nennen konnte, in meinem jugend-
lichen Geist recht aufzutauchen begannen, hatte ich den Wunsch
empfunden, einen würdigen Bericht jenes vollkommenen Glaubens und
Bejahens zu versuchen (»die Wege Gottes mit den Menschen zu recht-
fertigen,« ist Milton’s wohlbekanntes ehrgeiziges Wort), das die sittliche
Grundlage Amerikas bildet. Ich fühlte Alles genau so mächtig und
klar in meinen jungen Tagen wie jetzt in meinen alten. Ein Gedicht

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 430, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0430.html)