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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 418

Text

418 SMITAL.

Fast aneinander gelehnt sassen sie Beide und blickten schweigend
ins Land. So merkwürdig sahen die Gegenden aus, an denen sie vor-
beiflogen! So viel Strahlenglanz zitterte in der Luft!

»Daran werde ich immer denken,« sagte er bewegt. Woran?
Das wusste er nicht und sie auch nicht. An das einsame Schneefeld
im glänzenden Sonnenschein

Dann rückten wieder Berge vor und warfen Schatten in das
Coupé Als wäre das schon ein anderer Tag oder ein Tag über
ein Jahr später!

Es begann zu dunkeln Stumm zog sich Jenny in ihre Ecke
zurück, der Mann blieb mit gefalteten Händen sitzen Sie sprachen
nicht Einen Augenblick lang waren ihre Seelen nahe bei einander
gewesen, jetzt in der öden Dämmerung flogen sie von einander, als
müsse eines im Osten, eines im Westen Ruhe für die Nacht suchen.
Der Mann seufzte Jenny blickte verlegen zu Boden

Es war vorüber

Vollends auf den letzten Stationen vor Wien wurde der intime
Zauber grausam zerstört. Einige neue Passagiere stiegen ein, es brannte
die Lampe, das Gespräch drehte sich um die allergewöhnlichsten Dinge.

Jenny vermied es, in die Richtung zu blicken, wo ihr Reise-
kamerad sass. Er richtete noch einmal das Wort an sie; Jenny zuckte
zusammen. Er wollte ihr für alle Fälle seine Dienste antragen; sie
bemerkte nun wieder die grossen, rothen Hände und dankte höflich,
aber kalt.

Die erleuchteten Häuserfronten tauchten beiderseits auf. Schon
fuhr der Zug in die weite Halle ein. Die Dampfwolke zischte aus dem
Schlot der Locomotive hervor, der mattbeleuchtete Perron lag
schmutzig und grau in dem feuchten Nebel eines Märzabends in der
Residenz.

Jenny nahm ihre Reisetasche aus dem Netz.

»Darf ich Ihnen nicht behilflich sein, gnädiges Fräulein?« tönte
es leise, flehend an ihr Ohr.

Jenny wandte sich ab.

»Nein ich danke.«

»Und ist es auch nicht möglich, Sie wiederzusehen?«

Das Aechzen der Bremsen, der Lärm der Träger, das Auf-
schlagen der Thüren gestatteten keine Unterredung mehr.

Jenny stieg aus, verlor sich im Gedränge, das dem Ausgang
zustrebte

In den Gassen der Residenz aber war der Märzenschnee, der
draussen im Feld in herrlichem Schimmer geglänzt hatte, zu einer
dunklen Masse zusammengeschmolzen.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 418, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0418.html)