Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 417
Text
Er vollendete nicht. Jenny stiess einen Schrei des Unwillens aus.
Der Mann wich erstaunt zurück. Aber was war es doch? Da erzitterte
der Boden, die Dampfbremse zischte, gefolterte Schienen kreischten,
der Wagen neigte sich — ein Krach von oben aufs Dach — die Luft
verfinsterte sich, dann stand der Zug still.
Langgezogene, jammernde Pfiffe von der Locomotive her be-
stätigten die Thatsache, dass ein Bahnunfall geschehen war. Die alar-
mirenden Rufe der Schaffner, die zum Aussteigen aufforderten, ver-
ursachten Aufregung und Verwirrung.
Jenny, die beim ersten Anprall zu Boden geworfen worden war,
erwachte aus ihrer Betäubung.
»Was ist geschehen?« rief sie.
Keine Antwort. Aber sie hörte, wie etwas Kolossales an der
Thür, die von aussen verrammelt war, mit voller Kraft rüttelte. Noch
war es finster. Dann krachte die Thür, Licht drang ein. Und nun
fühlte sich Jenny von zwei stählernen Armen ergriffen und emporge-
tragen. Das Schaurige währte mehr als eine Minute. Ein Tunnel, den
die herabgestürzte Schneelawine bildete, zeigte sich im Dämmerlicht.
Das Mädchen wusste sich von einer sieghaften Kraft getragen, vor
der jedes Hinderniss zusammenfiel. Wie im Traum erlebte sie die
Todesgefahr; der Schnee kühlte ihren Nacken, presste ihr zuweilen
die Kehle zusammen; doch gleichzeitig durchströmte sie das Gefühl
der Sicherheit, dass es zu dem Moment des Erdrücktwerdens nicht
kommen werde Dann schloss Jenny die Augen. Es gab keinen
Stillstand, sie kam von der Stelle, ruhig und sicher. Sie überliess sich
mit kindlichem Vertrauen der Fürsorge, von der sie zwar wusste, dass
sie nie erlahmen würde, deren eigentliches Wesen ihr jedoch nicht
zum vollen Bewusstsein kam Im hellen Sonnenlicht, am Bahndamm
schlug Jenny die Augen auf. Ihr Kopf ruhte an der Brust des Riesen.
Sie lächelte
»Es war ein kleiner Unfall,« sprach er in unbeschreiblicher
Verlegenheit. »Der Zug bleibt stecken, wir müssen den Hilfstrain er-
warten Wie blass, wie schön Sie sind, gnädiges Fräulein!«
Zwei Stunden später rollte der Hilfszug von der Unglücksstelle
weg. In einem Coupé erster Classe sassen wie vorhin Jenny und der
Riese mit den grossen Händen. Doch nun nicht mehr auf respectvolle
Entfernung conversirend. In der kleinen Restauration des Badeortes,
in dessen Nähe der Unfall geschehen war, hatten sie an einem Tische
gegessen und zusammen eine Flasche Wein geleert. Das physische Be-
hagen nach der überstandenen Gefahr brachte sie einander näher;
auch fluthete jetzt blendendes Sonnenlicht herein, und die weite, leere
unbegrenzte Schneeebene schimmerte. Es war Nachmittag.
»Wie traurig trotzdem!« sagte Jenny mit einem müden Lächeln.
»Ja, so einsam,« gab er zurück. »Das ist im März immer so.
Und die Wolken am Himmel das sind schon Regenwolken, und da
weiss man, Ostern ist nicht mehr fern. Es ist schön und traurig!«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 417, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0417.html)