Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 416

Text

416 SMITAL.

Beständig klirrten eiserne Brücken, welche die unzähligen Fluss-
windungen übersetzten, unter dem rasselnden Zug, und Jenny, über-
wältigt von der Wucht der schmerzlichen Erinnerung, liess den Kopf
hängen. Nun fuhr sie wieder heim, kehrte in die Wohnung der Eltern
zurück. Mit Mühe nur unterdrückte sie einen Thränenstrom: es ist ja,
man mag darüber mit noch so schönen Reden hinweggleiten wollen,
das väterliche Haus für eine vierundzwanzigjährige Tochter kein Asyl
vor Sturm und Drang und Noth! Nein, bei Gott, das ist es nicht!

Ein kalter Luftzug von der anderen Seite weckte Jenny aus ihren
bangen Gedanken. Sie sah erschreckt hin, der Mann, mit dem sie
wider Willen in einem Coupé reiste, hatte, ohne um Erlaubniss nach-
zusuchen, das Fenster herabgelassen und stand, den Kopf vornüber-
geneigt, in erwartungsvoller Haltung, zur vollen Höhe aufgerichtet. Im
Winde flatterte sein Haar, das Profil seines Gesichtes, welches Jenny
mit ängstlicher Spannung betrachtete, war wie aus Bronzeguss. Und
nun beugte er sich noch mehr vor, schwenkte den Arm und rief
einige unverständliche Worte in den Tumult der Fahrt hinaus. Es
klang wie Jubelgeschrei. Jenny hielt entsetzt den Athem an.

»Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein« — das Fenster flog wieder
empor und der Mann wendete sich mit einem glückseligen Lächeln
an Jenny — »ich habe der Versuchung nicht widerstehen können,
meinen braven Franz, der hier Streckendienst hat, im Vorüberfahren
zu begrüssen.« Jenny verblieb regungslos.

Nicht achtend der eisigen Kühle, die Jenny der ungebetenen
Erklärung des jedenfalls ungebührlichen Benehmens entgegensetzte,
verlor sich der Herr mit den grossen Händen in allerlei Erzählungen,
die ihm wohl sehr interessant scheinen mochten, für welche Jenny
indessen, da sie auch nur mit halbem Ohr lauschte, absolut kein Ver-
ständniss besass. Soviel erhellte aus Allem, dass er gut und weich war,
gut bis zur Schwäche, wie es einem Mann gar nicht ziemt. Die Art
mochte Jenny schon gar nicht. Das sind die anhänglichsten, wusste
sie; jedes halbwegs pfiffige Mädchen kann sie kapern, denn sie wehren
sich nicht; im Gegentheil, sie tragen sich persönlich aller Welt an.

In breitem Fluss ergoss sich die Rede, in der es mitunter nicht
an komisch wirkenden Solicismen fehlte. Für Jenny eine Qual; die
Stimme berührte sie wie mit harten Spitzen. Wenn das, Gott bewahre,
bis Wien währen sollte, dann hielt sie’s wohl gar nicht aus. Jetzt ging
es zwischen hohen Waldwänden, von denen Schneewehen herabhingen,
hindurch, keuchend und pustend, mit geringer Geschwindigkeit. Nun,
bis zur nächsten Station gedachte sie es zu tragen, dann aber wollte
sie jedenfalls ein anderes Coupé wählen.

»Sind Sie unwohl, gnädiges Fräulein?« fragte ahnungslos der
Erzähler, als ihm eine heftige Bewegung seiner Reisegefährtin aufge-
fallen war. »Wirklich unwohl? Ich habe bereits bemerkt « Er sah
sie so treuherzig, so innig an. Eine Pause entstand. »Wie schön und
blass Sie sind, gnädiges Fräulein,« stammelte der Riese sichtlich
bewegt. Wenn ich Ihnen aus meiner Reiseapotheke «

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 416, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0416.html)