Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 434
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hätte. Auch ein momentan grösserer finanzieller Aufwand durfte nicht
abschrecken, denn schon damals war leicht erkennbar, dass durch die
intimere Kenntniss der künstlerischen Bewegung im Auslande eine
lebhafte Anregung der inländischen Künstler und eine Hebung des
Interesses der Wiener Kunstfreunde an der modernen Production sich
ergeben würden.
Der einleuchtendste Vorzug der Secessions-Ausstellung und das
Moment, welches das Interesse breiterer Schichten wachruft, ist jeden-
falls deren Mannigfaltigkeit im weitesten Sinne. An die Stelle des öden
Einerlei, das in so vielen nicht nur Wiener Ausstellungen dem reich-
lichen Biergenuss in der Erzeugung der erwünschten »Bettschwere« für
den Schlaf eine so wirksame Concurrenz machte, tritt uns in dieser
Ausstellung ein reizvoll gestimmtes, harmonisch wirkendes Gemisch
von Malerei, Plastik und Kunstgewerbe entgegen. Auch diese Zweige
sind mannigfaltig getheilt. Wir sehen einen grossen Reichthum an
Maltechniken, fast jeder der vertretenen Künstler sucht sich mit von
ihm zugerichteten Mitteln vorzustellen, jeder in Stoff und Behandlung
seine eigene Sprache zu finden. Der Plastik begegnen wir in allen
Formen, vom reliefirten Deckel der Cigarrentasche über die Statuette
bis zum Monument. Dabei ist das Ineinander der Kunstbethätigung,
des Kunsttriebes und des Kunstbedürfnisses durch die Vertheilung aufs
Glücklichste zur Anschauung gebracht. Kunst und Leben — das fühlen
wir in diesen Räumen — sind nicht getrennte, einander fremde Dinge.
Das Begehren nach dem Schönen wird im Beschauer gesteigert. Ein
Flüssiges, Aufschäumendes, Gestaltungsfreudiges umgibt ihn. Nicht das
zugeknöpfte, abweisende, tief egoistische »l’art pour l’art« ist es, das
er verspürt. Dennoch hat sich diese Vereinigung die Führerschaft dem
Publicum gegenüber vorbehalten und ladet es höflichst ein, in Dichters
Lande zu gehen. Am Ende ist das Publicum doch insofeme ein grosser
Herr, als das schmeichlerische und unterwürfige Abgucken seiner Launen
ihm schliesslich nur jene massige Hochachtung abzugewinnen vermag,
die man dem Handlanger entgegenbringt. Es tritt immer ein Moment
ein, wo das Publicum lieber beherrscht sein als herrschen will. Er
tritt ein, wenn das von ihm Gewollte ihm nichts mehr zu bieten
vermag, ihm nichts mehr sagt.
Es ist der Vereinigung in erfreulichem Masse gelungen, Typisches
für die Richtungen, welche die führenden Kunstcentren einschlagen, in
ihrer Ausstellung zu vereinigen. Frankreich und Belgien sind in Malerei
und Plastik sehr gut vertreten. Das Fesselndste, was sie bieten, finden
wir in dem Cabinet, das die Malereien und Plastiken Constantin
Meunier’s enthält. Das Problem, einen durchaus modernen, für
unsere Culturperiode charakteristischen Stoff in ebenso modernem, also
uns lebhaft berührendem Sinne künstlerisch zu beleben und seinen tief
verborgenen Schönheitsgehalt ans Licht zu ziehen, hat Meunier am
glänzendsten gelöst. Den reinen Kohlenstoff zeigt Meunier im Demant-
glanz der Poesie, ohne der Wahrheit im Geringsten Gewalt anzuthun.
An Germinal von Zola denkt wohl Jeder, der seinen Arbeiten gegen-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 434, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0434.html)