Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 435

Wiener Kunstfrühling (Schoenaich, Gustav)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 435

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WIENER KUNSTFRÜHLING. 435

übersteht. Es ist dasselbe Gebiet, dieselbe Welt, die der grosse Schrift-
steller in seinem bedeutendsten Werke mit so unvergleichlicher Unmittel-
barkeit geschildert hat. Den furchtbaren Druck, der nach der Dar-
stellung Zola’s auf ihr lastet, hat Meunier zum grossen Theil von ihr
genommen, indem er den Momenten der Kraftbethätigung, der Ruhe,
des Leidens einen Schönheitsschimmer abgewinnt, der ihnen nicht an-
gelogen, sondern ihrem Wesen entnommen ist. So anziehend und an-
schaulich seine alle dem Arbeitermilieu mit unbestechlicher Ehrlichkeit
und starkem Darstellungsvermögen entnommenen Pastelle wirken —
wir geben seinen mit unendlicher Liebe durchgebildeten und in jedem
Zug ihrer Bewegung der Natur abgelauschten Statuetten dennoch den
Vorzug. Wir verkehren mit ihnen fast wie mit lebendigen Wesen.
Durch Schönheit in liberalem, nicht akademischem Sinne zu wirken,
ohne die Natur zu corrigiren, versteht Meunier als Meister.

Der Pariser Alfred Roll, ein nicht mehr junger Neuerer in der
Malerei, ist mit mehreren Bildern glücklich vertreten. Ein weiblicher
Act in Frühlingsumgebung, »Plein-air« genannt, reizvoll im Fleischton
und mit der Umgebung glücklich gestimmt, befriedigt ebenso wie die
sehr charakteristischen Bildnisse Rochefort’s und des Malers Damoye.
Ein Jüngerer, John W. Alexander, tönt jedes seiner Bildnisse glück-
lich auf eine Farbe, wirkt aber ebenso stark durch Bestimmtheit und
Einheitlichkeit der Linienführung. Eine aparte Erscheinung ist Eugène
Carrière, der seine malerischen Wirkungen nur aus der Abtönung
des Grau zieht. In seinem Bild dreier Figuren »Im Nebel« gelingt ihm
das vorzüglich. Die aussergewöhnliche Virtuosität und unerschöpfliche
Abwechslung, die seine Eintönigkeit bietet, überzeugen uns fast von
der Entbehrlichkeit aller anderen Farben. In der von ihm angegebenen
Richtung folgt ihm Henry Lerolle mit seinem »Interieur«. Eugène
Jettel, der auch als Pariser ausstellt, zeigt mit seinen fünf aus dem
empfindlichsten Naturgefühl geschöpften und mit den feinsten Mitteln
des Pinsels hergestellten landschaftlichen Stimmungsbildern, wie weit
es Oesterreicher bringen können, die in frühen Jahren in lebendige
Berührung mit der ausländischen Kunstbewegung gerathen sind. Leon
Fréderic aus Brüssel ist durch ein Tryptichon, »Das Volk wird eines
Tages den Aufgang der Sonne sehen«, vertreten. Das Symbolistische
lenkt hier allzu auffällig in die breite Strasse der Tendenzmalerei ein,
ohne dafür durch die malerischen Qualitäten vollauf zu entschädigen.
Was das grosse Publicum unter Secession versteht, das vertritt am
auffälligsten Fernand Khnopff. Sein Zusammenhang mit den Er-
scheinungen der gleichzeitigen symbolistischen Literatur, mit Maeterlink
und den literarischen Decadenten ist augenscheinlich. Sein künstlerisches
Können ist immerhin hervorragend. Doch verliert er sich in mehreren
der ausgestellten Werke in leere Spielereien. Als Meister zeigt er sich
in dem Stimmungsbilde »Stilles Wasser«, wo er den poetischen Ton
aus der Tiefe herausholt, und in der symbolistischen Darstellung »Lieb-
kosung«, deren Charakteristik ebenso scharf als geistreich ist. Die volle
Bedeutung Auguste Rodin’s als Plastiker wird den ausgestellten

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 435, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0435.html)