Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 437

Im Hause der Abgeordneten Blind, Ranzoni, Thaler, Jordan

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 437

Text

NOTIZEN.

Blind, Ranzoni, Thaler,
Jordan. Die letzten Wochen
haben den ewigen Greisen gehört,
jenen Greisen, die niemals Jüng-
linge waren. Erst krochen die
Achtundvierziger ans Tageslicht,
Sectionschefe a. D., Hofräthe und
dergleichen Revolutionäre, von
denen man nicht wusste, wo sie
im tollen Jahre gesteckt haben,
und die mithin als Freiheits-
kämpfer gefeiert wurden. Bei
diesem Anlass tauchte natürlich
Herr Carl Blind wieder auf, wie
immer, wenn irgendwo das 48er
Jahr
genannt wird. Herr Blind
erzählt zwar immer dieselben
Sachen, aber wie es scheint, rentirt
sich die Fructificirung des 48er
Jahres
noch immer. Dann starb
Herr Emerich Ranzoni, der Kunst-
kritiker, diese Wiener Curiosität.
Der ihm congeniale Carl v. Thaler
schrieb seinen Nachruf. Welcher
andere Schriftsteller hätte diesen
Nachruf verfassen können? Nur
eine düstere Frage tauchte im Zu-
schauer auf: Wer wird, da Ranzoni
nun todt ist, einst, in späten Zeiten,
Herrn v. Thaler den Nachruf
halten können? Schliesslich kam
Herr Wilhelm Jordan, der grimmige
Rhapsode, zu Gast. Er declamirte
im kleinen Musikvereinssaale sein
Nibelungenepos frei aus dem Ge-
dächtniss. Das war vom Stand-
punkt der Mnemotechnik ein ge-
lungenes Kunststück. Es ist ja
auch psychologisch interessant,
dass noch irgend Jemand das

Jordan’sche Epos so genau kennt,
und wäre es auch der Autor
selbst. Ich fürchte aber, Herr
Jordan ist so ziemlich der Ein-
zige, welcher mit diesem Thema
so innig vertraut ist. Wenig-
stens was seine Zuhörer im
kleinen Musikvereinssaal betrifft, so
liefen sie entweder schaarenweise
in den Pausen davon oder sie be-
mühten sich anstandshalber, das
Gähnen zu unterdrücken. Diese
Sachen mögen ja für Herrn Jordan
sehr traurig sein, er war auch
sehr missgestimmt, menschen-
feindlich, selbstbewusst-verbittert,
als er den leeren und sich immer
mehr leerenden Saal erblickte.
Aber was für ein taktloser Einfall
war es auch, Herrn Jordan noch
einmal in die Oeffentlichkeit zu
locken? Was soll uns diese seelen-
lose Erweckung eines antiquirten
Heldenthums sagen? Wer ist
auf diesen senilen Gedanken ge-
kommen, Herrn Jordan aus dem
bescheidenen Ruhm seines »Freun-
deskreises« in die strenge Atmo-
sphäre der Oeffentlichkeit zu
locken? Das alles sind un-
sinnige Experimente. Il n’y a pas
une renaissance des vieillards!

st. gr.

F. R. Im Hause der Abge-
ordneten fiel, kaum beachtet, vor
Kurzem ein eigenthümliches Wort.
Herr W. hatte es für gut befunden,
den Namen der deutschen Cultur
in den Mund zu nehmen, worauf
Herr H. entgegnete: die Cultur

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 437, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0437.html)