Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 442

Friedrich Nietzsche in Weimar (Walde, Philo vom)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 442

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442 PHILO VOM WALDE.

ins Fremdenbuch geschrieben habe. So lange er noch bei seiner Mutter
in Naumburg lebte und absolut Niemandem zugänglich war, hatte sich
in seiner Nähe ein förmliches Bureau etablirt, das die grossen Blätter
mit allerlei Schauermärchen bediente. Nun hat sich das gebessert. Die
Mutter, die ihn mit rührender Hingebung gepflegt, ist für immer von
ihm geschieden; er selbst befindet sich in der Obhut seiner Schwester
an der Stätte, von der die gewaltigste geistige Anregung über Deutsch-
land ausgegangen ist.

Mein Herz drängte mich, das traumhafte Sonnenauge Zarathustras
wiederzusehen. Spät Abends kam ich in Weimar an. Der Nachthimmel
war mit flockigem Ziehgewölk überdeckt, durch das der halbvolle Mond
wie eine Silberbarke auf flinkem Wellengekräusel rasch dahinsegelte.
Im »Hotel zum Elephanten« am Marktplatz herrschte noch reges Leben,
denn Weimar ist stets von Fremden zahlreich besucht. Nächsten
Morgen besuchte ich den Friedhof an der alten Schlosskirche mit den
Grabstätten von Lukas Cranach, Musäus, der Christiane Vulpius und
der Euphrosyne, schlenderte dann nach der Fürstengruft und in die
wunderbare Hofbibliothek, bis endlich der Mittag herangekommen war.
Vom Wielandplatze biegt rechts die Kaiserin Augustastrasse ab, in die
gleich am Anfange die Luisenstrasse einmündet. Luisenstrasse 30 würde
ich Nietzsche wiederfinden — das wusste ich. So ging ich denn immer
weiter und weiter und kam zuletzt auf freies Feld; ich kam links am
»Felsenkeller« vorbei — da lag sie nun vor mir, die Villa »Silberblick«,
die die ganze Gegend beherrscht wie eine Königin das niedere Volk.
Ringsum friedvolle Einsamkeit, weite Horizonte, lachender Himmel und
goldiger Sonnenschein in allen Fenstern. Verschiedene Verhältnisse
liessen es als nöthig erscheinen, dass Frau Dr. Förster-Nietzsche das
»Nietzsche-Archiv« von Naumburg nach Weimar verlegte. Zu diesem
Zwecke miethete sie die Villa, die der bekannten Nietzsche-Verehrerin,
Fräulein von Salis (Verfasserin von »Philosoph und Edelmensch«, Verlag
von C. G. Naumann, Leipzig), gehört, um hier ganz ungestört leben
zu können. Das Haus umfasst zwei Stockwerke und eine Mansarden-
wohnung. Der Stil ist einfach, prunklos, aber vornehm: Rohbau von
rothen Ziegeln mit weisser Simskrönung, stumpf abfallendes Schiefer-
dach, Vorhaus und Balcon, ringsum ein grosser Garten mit jungen
Obstbäumen und Gehölzgruppen. In der Nähe befindet sich eine alte
holländische Windmühle. Auf mein Läuten an der Hausglocke tritt mir
Alwine entgegen, die mir bereits von Naumburg her bekannt ist. Sie
dient nun seit 19 Jahren im Nietzsche-Hause, ist eine schlanke, wohl-
gestaltete Erscheinung, hat ein vornehmes, sehr sympathisches, etwas
blasses Gesicht und ist einfach und geschmackvoll gekleidet. Beim
Blick auf meine Karte überfliegt sie eine freudige Ueberraschung, indem
sie meint: »Die Frau Doctor erwartet schon den Herrn Doctor!« Das
Empfangszimmer, in das ich eintrete, ist reich ausgestattet und macht
einen überaus stimmungsvollen Eindruck. Hier steht das Piano, worauf
Nietzsche, der nebenbei ein hervorragender Musiker war, so oft ge-
spielt hat; dort, aus üppigem Grün und zwischen duftigen Blumen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 442, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0442.html)