Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 443
Text
hervor, grüsst die Büste Dr. Bernhard Förster’s, der am edlen Werke
der Colonisation in Paraguay zu Grunde ging. Nun höre ich Tritte
über mir, sie kommen die Treppe herab — es ist Frau Dr. Förster-
Nietzsche, die zu mir hereintritt. Die Trauerkleidung hebt sich scharf
von ihrem lebhaft gerötheten Gesicht ab. Sie erscheint diesmal nicht
so frisch wie bei meinem vorigen Besuche. Wir reden über vielerlei:
über den körperlichen Zustand des Bruders, über sein Lebenswerk, über
die Krankheit und den Tod der Mutter. Oft wird ihr Auge thränen-
trüb, aber immer wieder siegt ihr lebhaftes, heiteres Naturell, so dass
ein herzliches Lachen wie aus einem Kindergemüth allen Schmerz und
alles Leid holdselig verklärt. Dann kommt Alwine mit einer Meldung,
und ich sage ihr einige herzliche Worte über ihre aufopfernde Pflege,
die sie dem grossen Kranken zutheil werden lässt. Frau Dr. Förster
erzählt mir: Alwine, die aus der Umgegend von Naumburg stammt,
habe nach der Uebersiedlung wohl etwas Heimweh empfunden, sie sei
aber sonst heiter und unverdrossen. Jede Arbeit vollführe sie bereit-
willigst und lasse bei keiner Dienstleistung um den Kranken die Ehr-
furcht ausser Acht. Selbst in der Nacht sei sie auf leisen Zuruf sofort
zur Stelle, um ihn mit zu bedienen. Von anderem Dienstpersonal sind
noch eine Köchin und ein Diener, der zugleich Badediener und Masseur
ist, im Hause. Frau Pastor Nietzsche sowohl als auch ihre Tochter sind
stets überzeugte Anhängerinnen der hygienisch-diätetischen Heilweise
(Naturheilkunde) gewesen und haben es mit tiefem Schmerz empfunden,
dass der liebe Fritz gegen seine Schlaflosigkeit und die neuralgischen
Schmerzen allerlei Medicamente gebrauchte, die seine Gehirnnerven
immer mehr ruinirten, bis er zuletzt am Chloralgebrauch zu Grunde
ging. Es wurde wissenschaftlich festgestellt, dass die grossen Chloral-
dosen gewisse Gehirnpartien angriffen, so dass 1889 in Turin ein Ge-
hirnschlag eintrat. Seit jener Zeit ist der Process immer weiter vor-
geschritten. Nietzsche leidet an Dementia paralytica und jede Besserung
und Hilfe sind ausgeschlossen. Nur ein Wunder könnte Zarathustra,
den Gottlosen, retten. Wer aber könnte je auf ein solches Wunder
hoffen am Ende des neunzehnten Jahrhunderts? In den ersten Jahren
war der Zustand ein ganz zufriedenstellender. Der Kranke zeigte sich
ruhig, nahm an Gesprächen theil, ging Arm in Arm mit der Mutter
spazieren und erfreute sich einer leidlichen Gesundheit. Nach und nach
wurden die einzelnen Nervensysteme krankhaft ergriffen. Das Bewusst-
sein schwand immer mehr, die Glieder versagten, die Sprache wurde
undeutlich. Um ihm genügend frische Luft zu verschaffen, wurde er im
Krankenstuhl auf der Promenade umhergefahren oder in einer Droschke
in den Stadtwald gebracht. Als diese Ausfahrten wegen der Zudring-
lichkeit des Publicums unterbleiben mussten, liess ihm seine Mutter
eine weinlaubumrankte Veranda bauen, wo er den grössten Theil der
Sommertage und Sommernächte zubrachte. Im Winter wurden täglich
sogenannte »grosse Touren«, wie mir die Mutter scherzend erzählte,
im Zimmer unternommen. Der Schlaf war fast immer ein ruhiger; nur
dreimal binnen vier Jahren war die Mutter genöthigt, in der Nacht
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 443, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0443.html)