Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 444
Text
Alwine zu wecken; sonst hat sie stets alles allein um ihren »lieben
Sohn« besorgt. Die Pflege war eine wahrhaft ideale. An reinster Luft
und an Sonnenschein hat es dem Kranken nie im Zimmer gefehlt. Die
Diät war eine kräftigende, keineswegs erregende, mehr vegetabilische.
Wöchentlich zweimal erhielt der Kranke Bäder und wurde auch, um
die active Bewegung theilweise zu ersetzen, massirt. Medicamente
wurden nie mehr gegeben. Diese Krankenbehandlung war zwar nicht
mehr im Stande, Geschehenes ungeschehen zu machen — aber der
Process wurde derartig verlangsamt, wie solches fast einzig in der
Geschichte dieses Leidens dasteht. Als ich Nietzsche das erstemal sah,
war ich überrascht über das gute Aussehen, und in einem Briefe vom
13. Februar 1897 schreibt mir Frau Pastor Nietzsche: »Den Nach-
mittag brachten wir bei unserem geliebten Kranken zu. Es geht ihm im
Ganzen recht leidlich; natürlich wird man immer bescheidener. Er leidet
aber Gottlob nicht, wie mir unser Hausarzt wiederholt und jetzt bei
einem gelegentlichen Besuche auch sein früherer Arzt, Hofrath Binswanger
aus Jena, versicherte, der fast erstaunt über sein gutes Aussehen war
und mir über die Pflege viel Liebes sagte.«
Ueber Nietzsches Uebersiedlung von Naumburg nach Weimar
haben die Zeitungen im vorigen Sommer alles Mögliche zusammen-
gefabelt. Frau Dr. Förster erzählte mir darüber Folgendes: Es war ein
Salonwagen eigens von Berlin aus gemiethet, ein besonderer Kranken-
tragstuhl construirt worden, die Eisenbahnbeamten hatten besondere
Unterweisungen erhalten. Mit dem Nachtzuge fuhr man ab, als das
erste Morgengrauen erwachte war man im neuen Heim angekommen.
Zwischen Naumburg und Weimar ging Alles rasch und geheimnissvoll
ab. Die Separat-Ein- und Ausgänge, die sonst nur vom Grossherzog
benutzt werden, flogen auf und zu, so dass das Publicum nichts weiter
merkte. Als sich der Kranke im neuen Zimmer sah, blickte er zur
Decke hinauf und lächelte. Den Verlust der Mutter hat er nie em-
pfunden. Immer hatte er nur zwei weibliche Gestalten um sich gesehen.
Als die Mutter wegblieb, trat dafür seine Schwester, sein geliebtes
Lama, ein. Des Nachts liegt er im Bett, bei Tage zumeist angekleidet
auf dem Sopha. Ein Lichtschirm am Fenster dämpft die einfallenden
Sonnenstrahlen, der Tisch ist dicht an die Lagerstatt angerückt, um
das Heruntergleiten zu verhüten. Manchmal fängt er (undeutlich) zu
reden an: »Ich habe eine Schwester. Meine Schwester ist eine gute
Frau. In diesem Hause wohnen lauter gute Menchen« Auch Sing-
versuche macht er zu Zeiten. Die ersten Tage nach der Uebersiedlung
umlagerten die Weimarer förmlich die Villa und krochen zwischen die
amliegenden Kornfelder, um nur einen Blick zu erhaschen. Niemand
aber sah Zarathustra!
Der regnerische Sommer liess ihn leider nicht oft ins Freie
kommen. Für dies Jahr ist eine eiserne Treppe construirt, über die er
bequem vom Balcon herab in den sonnigen Garten getragen werden kann.
Lange hatten wir unten im Archiv geplaudert, als Alwine dann
gegen 4 Uhr ein Zeichen gab, dass der Herr Professor vom Mittags-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 444, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0444.html)