Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 445
Text
schlafe erwacht sei und sich nach der Frau Doctor umsehe. Wir
gingen nun hinauf in das hohe, geräumige, lichtvolle und freundlich
ausgestattete Krankenzimmer, wo einer der grössten Geisteskämpfer,
die je auf der Welt gelebt haben, den Rest seines Daseins verträumt.
Dort in jener Ecke ruht er auf dem Sopha in halbsitzender Stellung.
Ein weisses Kissen dient ihm als Rückenunterlage, der Oberkörper
trägt ein blaues Jaquet, die Beine sind mit einer leichten Decke über-
worfen. Ja, das sind die Augen Zarathustras, die nun auf mir ruhen.
Sie haben in die tiefsten Abgründe des Lebens und in die sonnigsten
Höhen des Schöpferglückes geschaut — davon sind sie so traumverloren
Ein martialischer Schnurrbart, wie man ihn fast nie wiederfindet, überwuchert
den Mund bis zum energischen Kinn herab. Das grau-blonde, üppige Haupt-
haar fällt schlicht nach hinten. Seine Schwester redet ihm liebreich zur
dass hier ein Herr sei, der ihn besuchen komme. Da streckt er mir die
Hand zum Gruss entgegen. Ach, wer die Hand Zarathustras je in der seinigen
gefühlt — der vergisst es nie! Sie ist äusserst fein und zart und kühl.
Ich streichelte ihm nun das Haar und rede zu ihm: »Du müder
Kämpfer, du ruhst dich nun aus!« Da hoben sich die buschigen
Augenbrauen — mir ist’s, als ob ich der Sphinx ins Antlitz sähe
Endlich verabschieden wir uns Beide von ihm und gehen wieder ins
Archiv hinab.
Man möge nicht glauben, dass es im Hause öd und traurig her-
gehe. Das wäre ganz gegen die Philosophie Nietzsche’s. Ist nicht Zara-
thustra gekommen, um uns die Rosenkranzkrone aufzudrücken und das
Lachen heiligzusprechen? Lehrte er je das Mit-Leiden? Getheiltes Leid
war ihm nicht halbes, sondern doppeltes Leid. Der Mit-Freude schlug
sein Herz entgegen. Frau Dr. Förster bietet alles auf, um ihren Be-
diensteten, die sonst auf vieles verzichten müssen, das Leben heiter
und angenehm zu machen. Es wird fleissig erzählt, es werden heitere
Bücher gelesen, freundliche Zimmer dienen zum Aufenthalt. Ist das
nicht dieselbe Auffassung, die Nietzsche in der »Geburt der Tragödie«
von den Griechen hat, wenn er ausführt: die Griechen waren im Grunde
Pessimisten; sie kannten die Schattenseite des Lebens — darum schufen
sie sich eine heitere Götterwelt, um sich das Leben erträglich zu gestalten!
Was immer auch für Nachrichten über eine Besserung im Befinden
Friedrich Nietzsche’s in der Presse auftauchen — alle beruhen sie auf
Unwahrheit und Erfindung. In einem Briefe, den mir neulich Nietzsche’s
Nichte aus Weimar im Namen seiner Schwester schrieb, heisst es zwar
am Schluss: »Meine Tante lässt Ihnen noch sagen, dass sich der theure
Kranke hier merkwürdig gut befindet; die tiefe Stille und die gute Luft,
die hier oben weht, scheinen ihm recht wohl zu thun« — dieses re-
lative Wohlbefinden gibt aber zu einer thatsächlichen Besserung des
Grundübels keinerlei berechtigte Hoffnung. Es ist nur zu befürchten,
dass auch Frau Dr. Förster-Nietzsche vorzeitig Schaden an ihrer Ge-
sundheit nehme. Die Herausgabe der gesammelten Werke ihres Bruders
ist für eine Frauennatur geradezu als Riesenleistung zu bezeichnen.
Und doch konnte dies nur die Schwester thun, die ihn von Jugend auf
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 445, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0445.html)