Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 446

Friedrich Nietzsche in Weimar (Walde, Philo vom)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 446

Text

446 PHILO VOM WALDE.

geliebt und verehrt, und die alles Erreichbare von ihm gesammelt hat.
Von der hervorragenden Befähigung dieser Frau legen besonders die
beiden bis jetzt erschienenen Biographiebände glänzendes Zeugniss ab.
Nicht genug, dass Frau Dr. Förster-Nietzsche das ganze Material mit-
gesichtet hat, dass sie die ganze Correspondenz führt und den zahl-
reichen Gelehrten, die das Archiv besuchen, ausführliche Aufschlüsse
gibt — nein, auf ihr ruht auch die ganze Wirthschaftsleitung. Darum
schreibt mir ihre Nichte: »Die arme Tante kann nicht einmal ihre
Mahnung, alle Tage eine Stunde spazieren zu gehen, ausführen, da sie
in der That zu viel zu thun hat. Die Pflege des Kranken nimmt ihre
Hauptzeit in Anspruch. Sie behütet ihn Tag und Nacht, und vielleicht
ist dies manchmal doch angreifender, als sie sich’s selbst gestehen mag.
Die gute Alwine hilft ja, so viel sie kann; aber schliesslich bleibt der
Tante doch die Hauptsache, besonders die Nachtwachen, wenn es
nöthig ist. Tante könnte und würde es auch niemand anders übergeben,
da sie viel zu sehr um ihn besorgt ist und durch die genaue Kenntniss
und Beobachtung des gesunden und kranken Bruders allein am besten
weiss, was dem theuren Kranken zuträglich ist.«

Anmerkung der Redaction. Durch die Zeitungen geht wieder einmal
die frech in die Welt gesetzte Nachricht, dass im Befinden Friedrich Nietzsche’s
eine unerwartete, hoffnungsvolle Wendung eingetreten sei. Aus dem Aufsatze,
den uns Philo v. Walde, ein Freund der Familie Nietzsche, freundlichst über-
sandte, wird die Leichtfertigkeit und Unwahrhaftigkeit der erwähnten Zeitungs-
notizen ersichtlich. Ueberdies hatte die Schwester des kranken Philosophen die
Güte, uns brieflich von der Unrichtigkeit dieser journalistischen Erfindung zu
informiren. Frau Elisabeth Förster-Nietzsche schreibt aus Weimar, den 23. April:

»Aus Ihrem warmempfundenen Schreiben fühle ich die Aufregung und die
aufrichtige Theilnahme heraus, die eine leider falsche Zeitungsnotiz in Ihnen
Allen erregt hat. Mich selbst haben diese Nachrichten, Anfragen, Glückwünsche,
die ich daraufhin erhielt, ganz elend gemacht, denn die Wahrheit ist ja, wie ich
mit unendlichem Schmerz sagen muss, dass die Aerzte auch nicht den geringsten
Glauben an eine Wiederherstellung meines geliebten Bruders haben und mir jede
Hoffnung darauf genommen ist.

Die Veranlassung zu jener Zeitungsnotiz mag wohl die Thatsache sein,
dass sich mein Bruder seit seiner Uebersiedlung nach Weimar Ende Juli des
vorigen Jahres verhältnissmässig wohl befindet, jedenfalls besser als in Naumburg.
Das Haus, das wir hier bewohnen, liegt hoch auf einem Hügel oberhalb Weimars,
mitten in einem grossen Garten in tiefster Stille und Einsamkeit, und da es von einer
sehr guten und kräftigen Luft umweht wird, so scheint es auf den Zustand meines
Bruders einen recht günstigen Einfluss gehabt zu haben. Der theure Kranke ist
immer freundlich und zufrieden, zeigt für seine Umgebung lebhaftes Interesse,
hört mich gerne vorlesen und freut sich an der schönen weiten Aussicht, die
sich tun uns ausbreitet. Er ist der liebenswürdigste Kranke, den zu pflegen mein
höchstes Glück ist. Er hat sich so viel von der ehemaligen Würde und Anmuth
seines Wesens bewahrt, sieht mit grossen, klaren, schönen Augen um sich, nichts
in seinem Aussehen erinnert an geistige Störung — trotzdem, er ist ein Kranker,
der sich aber seines furchtbaren Geschickes nicht bewusst ist. Das ist mein
einziger Trost!

Durch ein Uebermaass geistiger Arbeit, durch den Gebrauch des
Chlorals in stärksten Dosen sind seine geistigen Kräfte einer unheilbaren Läh-
mung verfallen; es wird mir so grenzenlos schwer, mich in dieses »unheilbar«
zu ergeben — und doch, es ist unbedingt nöthig. Ich darf weder mir noch
Anderen Hoffnung machen, dass dieser wunderbare Geist wieder hergestellt
werden könnte.«


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 446, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0446.html)