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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 513

Text

DER STREIK DER WÄHLER.
Von Octave Mirbeau (Paris).

Vorbemerkung der Redaction. Dieser Aufsatz von Octave Mirbeau
wurde während der letzten Wochen in Zehntausenden von Exemplaren durch
ganz Frankreich colportirt. Vor den Neuwahlen rüsten sich in Frankreich nicht
nur die Politiker, sondern auch die Antipolitiker. — Man wird diese unbedingte
Negation der Politik bei uns vielleicht sehr unzeitgemäss finden, aber in Frank-
reich deuten so viele Anzeichen, unter Anderem dieses Manifest, auf die Er-
mattung des politischen Sinnes hin. Diese Erkaltung des politischen Interesses
bedeutet vielleicht gleichzeitig eine Renaissance des religiösen Empfindens.
Unter anderen Symptomen weist auf diese Entwicklung auch der Schluss der
Mirbeau’schen Proclamation hin. D. R.

Etwas kommt mir sehr seltsam vor — ich wage nicht zu sagen,
dass ich darüber bestürzt bin — dass nämlich heutztage, in der Stunde,
wo ich dies schreibe, nach den unzähligen Erfahrungen, nach den
täglichen Scandalaffairen, in unserem »theuren Vaterland« (wie man
in der Budgetcommission zu sagen pflegt) noch ein Wähler, ein einziger
Wähler existiren kann, ein so unberechenbares, unorganisches, verblendetes
Thier, welches darin einwilligt, sich in seinen Geschäften, Träumen
und Vergnügungen stören zu lassen, um zu Gunsten irgend eines
Anderen für irgend etwas zu stimmen. Ist dieses überraschende
Phänomen — wenn man nur einen Moment darüber nachdenkt —
nicht darnach angethan, um die scharfsinnigsten Philosphien zu zer-
stören und alle Raison zu beschämen? Wo ist der Balzac, welcher uns
die Physiologie des modernen Wählers gibt? Und der Charcot,
welcher uns die Anatomie und den Geisteszustand dieses Unheilbaren
aufdeckt?

Ich begreife, dass ein Hochstapler noch immer Actionäre findet,
ich begreife, dass die Censur noch ihre Vertheidiger findet, ich begreife,
dass historische Dramen geschrieben werden. — Aber dass ein Ab-
geordneter oder ein Senator oder ein Minister oder wer immer unter
all den sonderbaren Hanswursten, die eine gewählte Function bean-
spruchen, einen Wähler findet, will sagen: ein so unglaubliches
Wesen, einen so unwahrscheinlichen Märtyrer, welcher ihn von seinem
Brod ernährt, von seiner Wolle kleidet, von seinem Fleisch mästet,
mit seinem Geld bereichert, mit der einzigen Perspective, zum Dank
für diese Verschwendung späterhin ignorirt oder mit höflichen Fuss-
tritten bedacht zu werden — wahrhaftig, das überschreitet die pessi-
mistischesten Begriffe, die ich mir bisher über die menschliche Dumm-
heit gemacht habe!

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 513, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0513.html)