Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 512
Text
Der naive, unversehrte Mensch findet seinen Lebensfrieden in ein-
fachen, beinahe nur vegetativen Verhältnissen. Der dekadente, zum
primitiven Leben unfähige Mensch muss aus seinen Todesgedanken
seinen Lebensinhalt saugen. Ihnen predigte Tolstoi: Wie werdet Ihr
in der Stunde Eures Todes dastehen? Was hat denn Euer Leben be-
deutet? Gute Kaufleute seid Ihr gewesen oder gute Schuster, eifrige
Landleute oder specialistische Gelehrte. Aber kann das der Sinn Eures
Lebens gewesen sein?
Hier wird der Todesgedanke zum mächtigsten Erwecker ethischer
Cultur. Indem er den Einzelnen seiner nichtigen socialen Function
entkleidet und sein methaphysisches Bedürfhiss weckt, adelt er das
Individuum. Er führt zur Autonomie des Individuums, zur plangemässen
Ausgestaltung seines eigenen Lebens. Der Todesgedanke gibt »innere
Schönheit«. »Ist es nicht schwer« — spricht Maeterlinck — »dem
Meere oder der Nacht gegenüber an gewöhnliche Dinge zu denken?
Und welche Seele weiss nicht, dass sie immer dem Meere und der
Nacht gegenübersteht?«
Es ist auch nichts falscher, als der bourgeoise Vorwand, dass der
Todesgedanke trauriger, ernster, schwerer mache. Für den bewussten
Menschen hat der Tod viel weniger Schreckhaftes, als für den Mast-
bürger, den »Stillstandsutopisten«, wie Egidy die Leute nennt,
welche dem bornirten Glauben anhängen, wir und die Welt könnten
bleiben, wie wir sind. Im Gegentheil, der Todesgedanke schärft unser
manchmal schläfriges Wissen: Alles fliesst! Es gibt uns Ent-
wicklungsbewusstsein, vermöge des Todesgedanken nehmen wir das
Leben leichter, wir verwachsen nicht so schwerfällig, untrennbar mit
den Dingen. Das Nichtvergessen auf den schliesslichen Tod macht
uns im Leben kühner, fröhlicher, waghalsiger. Ja, für den heroischen
Menschen ist der Gedanke an den Tod ein Trost. »Er hilft über
manche böse Nacht hinaus«, sagt Friedrich Nietzsche. Und ein
Märtyrer der Gegegenwart, dessen Name hier nicht eitel genannt
sein soll, schrieb in sein Tagebuch von La Roquette: »Nur ein Wille,
der bis zur Aufopferung seiner selbst geht, kann wahrhaft erlösend
wirken.« Der Gedanke an den Tod ist nur für den behäbigen, be-
wegungslosen homme médiocre ein Schreckniss. In einer modernen
Dichtung wird einmal ein ziemlich beleibter älterer Herr von einem
Jüngling gehänselt. »Welches Wort gefällt Ihnen besser« — fragt der
Jüngling — »Selbstmord oder Freitod?« Der beleibte Herr erstarrt.
Nicht umsonst heisst eine deutsche Sprachwendung: Auf etwas ver-
gessen, wie auf den Tod
Wer kennt nicht die Frau in den Leihbibliotheken, welche bei
jedem Buche nachsieht, ob am Schlusse Niemand stirbt Fürst
Kaunitz gab seiner Umgebung den strengen Befehl, in seiner Gegen-
wart niemals das Wort »Tod« fallen zu lassen Revolutionen
sind umso schrecklicher, je plötzlicher, unerwarteter sie ausbrechen.
Deshalb ist der Tod nur für den Bourgeois die fürchterlichste Revolution.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 512, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0512.html)