Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 511
Text
Seit jener lieblosen Nacht, in der er gezeugt wurde, stand ein Stern
über seinem Leben. In diesem war zu lesen: Du bist der Verfall, die
innere Verwesung, die wahre Decadence, der Untergang!
Aber wie selten sind die einzelnen »Fälle« im Leben so einfach.
Darf man denn sicher sein, dass z. B. Dr. Rank aus Ibsen’s »Nora«
sich wirklich erschiesst, wenn er an die frische Luft kommt? Wie viel
Todte sind in physisch starken Organismen! Und wie wenige kennen
den Leichengeruch des »homme médiocre«! Ohne Rausch, in lieb-
losen Nächten gezeugt, gleitet sein Leben ohne Rausch und lieblos
dahin. Aber mit der Leiche seiner Seele im Innern, imitirt er alle
Symptome des Lebens. Zwar bleibt die mediocre Temperatur seines
Lebens immer dieselbe, er erhitzt sich nicht, er kann nicht kalt
werden, aber um so schärfer vermag er die Symptome der Lebendig-
keit nachzuahmen. Jeder Leidenschaft unfähig, imitirt er Affecte mit
der ganzen Erbitterung seines Starrsinns. Ohne jeden heiligen Eifer,
weiss er diesen zu markiren und wird ein viel erbitterterer Dogmatiker,
als es die Propheten sind. In den entscheidenden Stunden fehlt ihm
jene spontane Energie, die ein Merkmal des innerlich lebendigen,
glühenden Menschen ist, also construirt er sich falsche Energien, am
unrechten Platze. Wer vermag schliesslich zwischen den Echten und
Unechten zu entscheiden? Ein namenloser Zorn muss den wirklich
lebendigen Menschen angesichts dieser geschminkten wandelnden
Leichen befallen. Zwar hat er das Bewusstsein, dass eine tödtlich-
kühle Atmosphäre im Innern dieser Leichenmenschen wohnt, dass sie
stöhnen vor innerer Verödung und Ausgestorbenheit. Aber wer bringt
diesem homme médiocre seine seelische Decadence ins Bewusstsein?
Eine solche Abrechnung hat Hugo v. Hofmannsthal in seinem
»Thor und der Tod« mit ihm gehalten. Der Thor seufzt:
Was weiss ich denn vom Menschenleben?
Bin freilich scheinbar drin gestanden,
Aber ich hab’ es höchstens verstanden,
Hab’ mich niemals drin verloren.
Wo Andre nehmen, Andre geben,
Blieb ich beiseit’, im Innern stumm geboren.
In der Nähe des Todes erscheinen ihm jetzt die Mutter, die
Geliebte, der active Mann, der Veränderer des Lebens, nun erst, im
Tode erhält er sein wahres Lebensgefühl: seine seelische Beziehung
zu den Dingen. Alle Lebensbetrüge der Vergangenheit sinken in einen
Haufen elender Asche vor ihm zusammen, alle frech gewählten Costüme
fallen von ihm und sein wahres Lebensgefühl, das Bewusstsein von
seinem ungelebten Leben, überfällt ihn. — Wie mit elektrischem Blitz
beleuchtet der Todesgedanke die dunkle Landschaft eines unbewussten
Lebens und alle Wege werden sichtbar Der Todesgedanke ist
der stärkste Bewusstseinserreger.
Will der dekadente Mensch sein Lebensgefühl behalten, so darf
er den Todesgedanken nicht aus dem Auge verlieren. Dieser Rückhalt,
diese Stütze kann ihn zum heroischen, zum religiösen Menschen machen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 511, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0511.html)