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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 517

Text

NOTIZEN.
CHRONIK.

»Bücher! Die hab’ ich
g’fressen! Die schreibt
ein Jud vom andern ab.«
Diese Aussprüche, welche in-
zwischen eine europäische Berühmt-
heit erlangt haben, rühren be-
kanntlich vom Abgeordneten Her-
mann Bielohlawek her. Nichts ist
leichter als angesichts dieser Sätze
den Satyriker zu spielen. Fast sehen
sie aus wie bestellte Sujets für die
gewissen politischen Ironiker
Ist es gestattet, in diesen allgemeinen
Chorus nicht miteinzustimmen?
Darf man für diese lapidaren Sätze
ein paar Milderungsgründe an-
führen, ganz unbeträchtliche, partei-
lose, wenn’s erlaubt ist, psycho-
logische Milderungsgründe? Bei
welcher Gelegenheit wurde dieser
Ausspruch gethan? Gerade als der
Abgeordnete Leo Verkauf ein social-
politisches Werk citiren wollte, es
handelte sich um eine statistische
Arbeit von Rauchberg. Nun, das
Werk von Rauchberg kenne ich
nicht, ich gesteh’s, ebenso wie Herr
Bielohlawek. Vielleicht ist es ein
vortreffliches, nützliches Buch. Aber
sonst, Hand aufs Herz: Gibt es
noch einen Literaturzweig, wo so
oft mit Wasser gekocht wird als
in verschiedenen socialpolitischen,
socialethischen, socialphitosophi-
schen Werken? Dieses Gebiet ist
heutzutage das eigentliche Terrain
all Derer, die fürs Leben uns
nichts zu sagen haben und ihre
absolute Sterilität wissenschaftlich
vermummen. Der bekannte Ge-
lehrte, welcher aus tausend Büchern

ein tausendunderstes macht, ist
er nicht zweifellos ein social-
politischer Schriftsteller? Was für
ein Geschrei hat man erhoben als
man erfuhr, dass d’Annunzio ein
paar Seiten stillschweigend citirt
hatte, aber hier, in diesen Ge-
bieten lebt mindestens die Hälfte,
sagen wir: die Hälfte vom heim-
lichen Knuspern an fremder Leute
Werk. Schliesslich compiliren sich
die Betreffenden auch eine origi-
nale Meinung. Der Typus Weisen-
grün ist sehr verbreitet In
einem kleinen Punkte hat ja Herr
Bielohlawek Unrecht, wenigstens
formell. Auf diesem Gebiet schreibt
nicht nur ein »Jud« vom andern
ab, zuweilen kann der Eine auch
ein Christ sein, wenigstens formell.
Aber Alles in Allem hat Herr
Bielohlawek eine bemerkenswerthe
Aufrichtigkeit gesagt. Welcher
»Abschreiber« würde einen solchen
Urton anschlagen? Wenn
man an die erkünstelten Hoch-
gespräche dieser »wissenschaft-
lichen« Geister denkt, wird man
unseren Hermann milder beur-
theilen. Sie sind ja gerade nicht
sehr »fortschrittlich«, diese Urtöne
des Herrn Bielohlawek, nicht ge-
rade Beweise unserer neu ent-
deckten österreichischen Cultur,
aber immerhin Urtöne. Das
ist auch nicht ohne Werth.

st. gr.

BÜCHER.

Der Wiener »Hugo Wolf-
Verein« hat im Verlage von
Fischer in Berlin eine Samm-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 517, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0517.html)