Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 510
Text
Aus einem Vortrage.
Von Stefan Grossmann (Wien).
Selten ist in der Literatur so viel vom Tode die Rede gewesen
wie heute, niemals mit einer so intensiven Innerlichkeit. Es finden
sich ja auch in den älteren Literaturen einzelne bemerkenswerte
Todesfälle ( obzwar es eine ganze Bibliothek deutscher Romane
gibt, worin nur Erbtanten oder Goldonkeln sterben ), aber bisher,
bis zur modernen Literatur wurde der Tod gewöhnlich nur als eine
Art Elementarereigniss behandelt. Je weniger Einsicht in das Cau-
salitätsgesetz vorhanden war, um so plötzlicher durfte der Autor
seine Gestalten sterben lassen. Im besten Falle bestand der Conflict
eines Kunstwerkes darin, dass die Wolken des Schicksals sich immer
dichter und dunkler über dem Helden zusammenballten, bis aus dieser
schweren Wolke der Blitz des Todes auf den Helden niederfuhr.
Die Bedeutung des modernen Menschen aber liegt in seiner
Bewusstheit. Der Tod ist mehr kein Elementarereigniss, sondern in
den Anschauungskreis des modernen Menschen mit einbezogen, in
Calcul gestellt.
Nichts ist für diese ostentative Betonung des Todesgedankens
als innerer Lebensfactor charakteristischer, als jener grandiose Roman
von Leo Tolstoi, worin alle Capitel keine Ueberschrift tragen, bis auf
eines. Dieses trägt den Titel: Der Tod. Muss man hinzufügen, wieviel
unsichtbares Pathos in diesem einen Titel liegt?
Unlängst hat ein Arzt das Phänomen der Kinderselbstmorde zu
erklären versucht. Der Todesgedanke bei Kindern, sagte er, ist ein
Pubertätssymptom. Jene Knaben oder Mädchen, welche sich tödten,
könnten die Opfer wahnsinniger Elternehen sein. Ihre Dekadenz, wenn
sie sich nicht vorher in physischer Kränklichkeit, Lebensunfähigkeit
geäussert hat, führt in diesem Alter zu physischen Störungen. Der
Kinderselbstmord ist nur eine Art socialer Auslese. Die unfähigen
Organismen räumen sich selbst aus dem Wege Aber diese
Hypothese ist viel zu einfach, zu gerade, als dass sie durchaus richtig
wäre. Auch dieser Typus, der wahre dekadente, weil innerlich sterbende
Mensch hat seine Lebenszähigkeit. Zwar hat er eine stete Beziehung
zum Todesgedanken, von Zeit zu Zeit wird er dessen bewusst, sowie
sich Oswald Alwing von Zeit zu Zeit an die Brusttasche greift und
fühlt, ob er die betreffenden Pulver bei sich hat. Vor jedem Ereigniss
des Lebens erinnert er sich , geräth ins Wanken, seine ganze
geistig-seelische Existenz ist auf dem Todesproblem erbaut. Er weiss:
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 510, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0510.html)