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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 586

Text

586 MOOSMEE.

Sie kam zu einem Dichter, welcher abseits wohnte.

»Dichter, hast Du vielleicht meine Seele, welche ich weg-
gegeben habe?!«

Der Dichter erwiderte sanft: »Ich besitze in mir alle Seelen,
die im Sein des schweren Alltages so oder so verloren gehen,
sich nicht ausleben, vor der Zeit ersterben. Siehe! Denn ich bin
nichts anderes als Gottes Aufbewahrungsort für alle verkümmerten
und zerstörten Frauenseelen. In mir leben sie alle weiter, das
träumende Bürgermädchen, die traurige Gefallene, die Verstossene,
die Verkaufte, die Alternde, die Bucklige, die Verrathene, die
Hysterische, die Allzuschöne und die Allzuhässliche! Kein
Atom einer Frauenseele geht verloren im Welten-
Raume
!! Denn was das Leben welken macht, legt Gott sogleich
in eines Dichters Herz, dass es erblühe zu seiner letzten Pracht!
Zu seiner Endentfaltung! So geht nichts verloren. Hier ist Deine
eigene Seele, Mädchen! Erkenne sie! Hier ruht sie in Frieden,
in mir erwächst und blüht sie in Pracht! Wie die Seele der
Georges Sand und der Staël ist sie schon fast — — —.«

Aber das junge Mädchen erkannte ihre eigene Seele kaum
wieder, so schön und reich war sie. Wirklich wie die Seele der
Georges Sand und der Staël — — —!

»Nimm sie Dir,« sagte der Dichter sanft, »ich schenke Dir
Deine Seele.«

»Nein,« sagte das junge Mädchen, »ich lasse sie bei Dir.
Hier blüht sie besser. In Deiner Welten-Seele ruhe die meine!
Du träumst und leidest und weinst statt meiner und für mich!
Ich kann dann so ergeben dem harten Tage dienen, den Noth-
wendigkeiten! Und in den Ferial-Stunden dieser Schule »Leben«
komm’ ich zu Deiner, nein, zu meiner Seele und werde wieder,
was ich war — — ich selbst!«

»So komme in den Ferial-Stunden des Lebens!« sagte der
Dichter sanft.

Und sie kam zu ihm und seinen Werken, in den Ferial-
Stunden des Lebens. Zu ihrer eigenen Seele kam sie da, die sie
im Leben weggegeben hatte, zu ihren Träumen kam sie, zu
ihren Leiden, zu ihren Thränen, zu sich selbst!

Und sie fühlte: »Ihr thörichten Verwandten, falsche Freund-
liche! Ich gab meine Seele weg, die kleine schwächliche, Euch
zu Liebe. Doch riesengross und stark erwächst sie, Euch

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 586, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-15_n0586.html)