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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 585

Text

WARUM SIE DIESES DICHTERS WERKE SO SEHR LIEBT.
PETER ALTENBERG gewidmet.
Von MOOSMEE (Wien).

»Du, wir werden Dir Deine Seele aus dem Leibe reissen
müssen, Kind. Denn das ist einmal nichts für dieses Leben, ver-
stehst Du?! Und ein anderes steht uns nicht zu Gebote. Weine
nicht.«

So sprachen die Menschen, welche es ihr gut meinten und
begannen an dieser Seele zu zerren und zu verschieben, obzwar
es ihnen eigentlich leid that, denn es war eine wunderschöne
zarte Seele, wenn auch nicht hierherpassend in dieses Thal der
Arbeit — — —.

»Ich darf keine Seele haben?! Warum aber einen Magen,
eine Leber, andere Organe?!«

»Wir wollen nicht philosophieren, Kind. Das sind Ver-
strickungen. Eine Seele?! Das gehört für Kaiserinnen oder
Bettlerinnen. Ist es für Durchschnitts-Menschen?! Nun also. Bitte,
bist Du vielleicht die Georges Sand oder die Staël?!«

Da löste das junge Mädchen die Seele aus sich heraus und
gab dieselbe freiwillig dahin, denn sie spürte, dass sie nicht die
Georges Sand sei oder die Staël, und es auch nimmer werden
würde. In ihrer Nichtigkeit gab sie die Seele hin — — —!

Dann stand sie da, arm, arm, arm, frierend, hungernd,
bebend, verkommend.

»Ich war nichts und ich bin nichts,« fühlte sie.

Und dennoch empfand sie zugleich, dass sie nicht leben
könne ohne ihre Seele und sie gieng, dieselbe zu suchen.

Sie kam zum Walde und sagte: »Wald, hast Du meine
Seele?!«

»Nein — —« rauschte der Wald, »ich habe nur meine
eigene, die Waldes-Seele!«

Zu vielen Dingen und Menschen kam sie fragend. Doch
alle besassen nur ihre eigene Seele — — —.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 585, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-15_n0585.html)