Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 590

Die verbotene »Ware« (Grossmann, Stefan)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 590

Text

590 GROSSMANN.

Blick fällt die Ähnlichkeit des Conflictes mit dem der »Liebelei« auf, worin
die weibliche Hauptgestalt auch eines Tages bewusst wird, dass sie
nicht das Object einer grossen Liebe, sondern nur einer Liebelei
gewesen ist. Beide Stücke sind dreiactig, und Beide sparen sich ihre
höchste dramatische Spannkraft für die vorletzte Scene auf, worin der
Heldin, plötzlich, wie vom Blitze einer Erkenntnis getroffen, das
Bewusstsein ihrer Situation aufdämmert. In der »Ware« ruft die
Heldin »Hansi« aus:

»Ausgeraubt haben sie mich. Ich hab’ gegeben und gegeben
und gegeben, und wie ich einmal denk’, ich könnt’ auch einmal
etwas verlangen, kennen sie mich nicht. Eine schöne Rolle hab’ ich
gespielt. Und habmir eingebildet, weiss Gott, was ich
denen bin
Jetzt bin ich eine Bettlerin Was soll
denn aus mir werden! Ich hab’ mich ja verloren! Ich hab’
keinen Halt mehr und keine Heimat, u. s. w. u. s. w.«

In der »Liebelei« ruft in der entsprechenden Scene die
»Christine« aus:

»Auch von mir hat er gesprochen! Auch von mir! Und von
was denn noch? Von wie viel andern Leuten, von wie viel andern
Sachen, die ihm g’rad so viel gewesen sind wie ich!
Ich bin ihm nichts gewesen als ein Zeitvertreib — und
für eine andere ist er gestorben.«

Man sieht vielleicht schon aus diesen Citaten, um wie viel discreter,
indirecter, gegenständlicher dieser Conflict in der »Liebelei« dargestellt
ist, wie viel mehr Worte, Deutlichkeit, programmatische Rede in der
»Ware« vorherrschen. Es ist schon charakteristisch, dass die Heldin
der »Liebelei« Christine, die Hauptfigur der »Ware«, damit man nur
das Wienerische immer vor Augen hat, Hansi heisst. Die »Liebelei«
versuchte das Schicksal eines Wiener Mädels darzustellen, aber deshalb
sagt keine Figur im Stück: »Liebe Christine, Du bist ein Wiener
Mädel.« Die Autoren der »Ware« wollen uns zweifelloser, directer
beibringen, was Hansi ist. In einem Gespräch der beiden Männer, der
Zerstörer (auch in der »Liebelei« treten die Verführer paarweise auf),
sagt der eine, Friedland:

» Das Kind ist exquisit. Das ist eine kleine Con-
fectioneuse mit dem Wuchs einer griechischen Göttin.«

Der andere antwortet:

»Das Wiener Mädel.«

Nun dürfen wir an ihrem Wienerthum natürlich nicht mehr
zweifeln. Obzwar es uns nicht ganz glaubwürdig erscheint, dass das
Wiener Mädel eine ernsthafte Liebschaft mit einem rothlockigen Herrn
Rabinowicz aus Lemberg eingeht. Obzwar wir meinen, dass dieser
Rabinowicz ein natürlicheres Localcolorit trägt, und die Autoren dieses
vielleicht besser kennen Ja, aber da es uns ausdrücklich gesagt
wird, dass die »Ware« ein Wiener Stück, die Hansi ein »Wiener

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 590, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-15_n0590.html)