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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 624

Text

DER BOTANISCHE POET.
(ANTON KERNER v. MARILAUN .)
Von M. KRONFELD (Wien).

Ich meine nicht den krankhaften Rousseau, nicht seine be-
rechnete Sentimentalität, sein Seufzen beim Anblick des blauen Sinn-
grün und seinen auf den Effect berechneten Schmerz um die Blume.
Ich denke eines Geraden und Biederen, eines ehrlich Empfindenden
und für das Naturschöne naiv Entzückten: ich betrauere Anton Kerner.
Stark und stämmig stand er da wie die Eiche der niederösterreichischen
Wachau, der er entsprossen. Und wie die Eiche wurde er vom Sturme
ins Lebensmark getroffen und starb dahin. Kleinliche Gebreste, wie
sie andere quälen, konnten ihm nichts anhaben. Er war zu gesund
in seinem Innern, um kränkeln zu können. Ein Schlaganfall machte
seinem inhaltsreichen Dasein jäh ein Ende.

Warum ich das ihm von der Leitung dieser Blätter zuge-
sprochene Attribut als Titel gewählt? Weil ich ihm durch lange Jahre
als Schüler nahe war und merkte, wie ihm das Botanisieren, das Mikrosko-
pieren, das Staubgefässzählen und die Pflanzenpresse nicht Selbstzwecke
waren. Siebenundsechzig Jahre ist er alt geworden und war Botaniker
eigentlich schon von Knabenbeinen an. Er hat über 120 wissen-
schaftlich wertvolle, zum Theile grundlegende und richtunggebende
Arbeiten zurückgelassen. Ein grosses Zimmer fasst kaum die von ihm
entworfenen botanischen Zeichnungen und Notizen. Er ist Heros
der Pflanzengeographie, der Pflanzenbeschreibung und der Biologie.
Gleichwohl war er nicht Naturforscher allein, und niemand darf ihm
vorwerfen, dass er »nur Botaniker« gewesen. Was er sich als Forscher
geholt, das verwendete er, um als edler, theilnehmender Mensch zu
Mitmenschen, die nicht am Borne der Erkenntnis schöpfen können,
in Verständlichkeit zu sprechen. Er war nicht wie jene frosch-
kalten, verzopften Hochschulegoisten, die sich vermessen, geizig die
Perlen des Wissens anderen vorzuenhalten. Er war volksthümlich,
nachdem er gelehrt gewesen. Ein Sohn des Volkes, hat er den Weg
zu ihm glücklich zurückgefunden. Vom Gejauchze der frohen Winzer
ertönt das Thal, in dem er das Licht dieser von ihm selbst so freundlich
erhellten Welt erblickte. Und froh und heiter war er seinem Grund-
zuge nach. Da er am Schlusse des erst vor wenigen Wochen in zweiter
Auflage beendigten Monumentalwerkes »Pflanzenleben« von den Be-
ziehungen der Blumen zur Poesie spricht, da ist es ihm Herzens-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 624, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-16_n0624.html)