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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 625

Text

DER BOTANISCHE POET. 625

bedürfnis, ein »Schnadahüpfl« hinzusetzen, so kernig und ursprünglich,
wie er es in der Jugendzeit, in der Wachau gehört:

Zwa Veigerl san d’Äugerl,
Zwa Röserl san d’Wang,
Und die möcht i halt brocken
Was laugn’ i ’s denn lang?

Dass Kerner in dem Buche seiner fünfzigjährigen Arbeit, in
seinem Hauptwerke, das nicht nur die Errungenschaften der gesammten
Botanik so gut und schön dem Publicum vorführt, wie keines vor
ihm, das eine Schatzkammer ist des von ihm mit klarem Auge und
kluger Logik Entdeckten und Gefundenen, auch der Blumensprache
des Herzens und Gemüthes sinnig gedenkt, das allein macht ihn zum
poetischen Botaniker. Derselbe Mann, der Kants Speculation von der
Inferiorität und Unfruchtbarkeit der schon im Namen gebrandmarkten
Bastarde aus der Welt geschafft und die Schwäche der Darwin’schen
Hypothese von der Entstehung neuer Arten durch Anpassung muthig
verkündet hat, weiss, dass die Natur nicht nur für Privatdocenten und
Professoren der Naturgeschichte ihre Schöpfungen und Regungen dar-
bietet. Er schreibt: »Bei dem in jeder Menschenbrust liegenden Drange,
das Empfundene wieder nach aussen darzustellen, ist es natürlich,
dass sich das Gepräge der heimischen Natur in die Lieder und Poesien
aller Völker, aller Zonen und aller Zeiten bewusst oder unbewusst
hineindrängte. Das Volkslied des Gebirgsbewohners, das sich in
rhythmischen heiteren Klängen in Dur bewegt, harmonirt gerade so
mit dem Rauschen in den Kronen der heimischen Wälder, dem Ge-
plauder der Bäche und den Tönen der lustigen, befiederten Waldsänger,
wie die nationalen Weisen der Steppensöhne mit der schwermüthigen
Musik in Moll im Einklang stehen, welche die Natur auf der weiten
Ebene aufspielt. Bald klagt in der ungarischen Nationalmusik die
Fiedel gleich dem Liede eines im Schilfe hausenden Rohrsängers,
während das Cymbal gleichzeitig das Flüstern und Lispeln des im
Winde bewegten Röhrichts nachahmt, dann wieder glauben wir den
Sturmwind zu hören, wie er in langgezogenen Tönen bald schwellend,
bald fallend über die Steppe dahinbraust. Und so malen die nationalen
Weisen hier wie dort die Scenen der heimischen Welt. Aber bei
weitem schärfer als in aller Musik spiegelt sich die umgebende Natur
in den Texten ab, welche den Volksliedern zugrunde liegen. Mit
Vorliebe malt und preist das Volkslied die Schönheiten der heimischen
Welt. In unzähligen dieser Lieder spricht sich eine kindliche Pietät
für die heimische Scholle und eine heisse Liebe zur vaterländischen
Natur aus. So wie der Sohn der Alpen seine Bergwelt im Lied verklärt,
ebenso weiss der Sohn der Steppe seiner meeresebenen Niederung
unzählige Schönheiten abzugewinnen und diese im begeisterten Liede
zu verherrlichen. Und nicht nur der allgemeine Eindruck der heimischen
Natur vermochte dem Gedankenflug der begeisterten Sänger in allen
Zonen eine locale Färbung zu ertheilen, sondern auch concrete Er-
scheinungen, und unter diesen insbesondere die Pflanzenwelt, mussten

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 625, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-16_n0625.html)