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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 626

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die Einbildungskraft anregen und auf die poetischen Erzeugnisse der
verschiedenen Völker Einfluss nehmen.«

Adalbert Stifter, den Kerner persönlich kannte, ist auf ihn
sichtlich von Eindruck geblieben. Dann waren es Goethe und Her-
mann Gilm, die er verehrte. Goethe, der das bedeutsame Geständnis
ablegt, dass, nach Shakespeare und Spinoza, Linné auf ihn »die
grösste Wirkung« geübt, hat der Botanik den poetischen Adelsbrief
verliehen. Er singt:

Ein Blumenglöckchen
Vom Boden hervor
War früh gesprosset
In lieblichem Flor;
Da kam ein Bienchen
Und naschte fein: —
Die müssen wohl beide
Für einander sein.

Was Goethe andeutet, hat Kerner ausgeführt. Man versteht vollends,
seit er das berühmte Buch von den »Schutzmitteln der Blüten gegen
unberufene Gäste« geschrieben, was Blumen und Insecten einander
sind, wie der Besuch des »losen Falters«, der summsenden Biene ein
»interessierter« ist, wie jede Blumenart ihren eigenen Postillon d’amour
hat und wie sie für diesen den vor den räuberischen Ameisen geschützten
Honig und Pollen als Entlohnung aufspart. Die Inzucht muss um jeden
Preis vermieden, die Kreuzung gefördert werden. Das ist der tiefe Ernst
der poesieumwobenenen Blumen; sie sind Hilfen der Weltordnung.

Als Botaniker von innerem Beruf stand er natürlich mit der
Poesie in innigem Contact. Da er in Innsbruck schon ein berühmter
Botaniker und unermüdlich in der Erforschung der Alpenpflanzen war,
kam Longfellow zu ihm. Von dieser Begegnung erzählt Kerner im
Texte zu dem den vollen Reiz des heimatlichen Waldes athmenden
Bude »Waldmeister«: »Im Jahre 1869 besuchte mich Longfellow in
Innsbruck. Bei einer Wanderung durch den botanischen Garten bat
er mich, ihm die Asperula odorata zu zeigen und erzählte mir von
seinem Aufenthalte in Heidelberg und der Bereitung des Maiweines
mit Hilfe dieses Krautes. Im botanischen Garten war Asperula odorata
bereits verblüht, aber in einem Buchenwalde in der Nähe von Inns-
bruck hatte ich dieselbe kürzlich noch in Knospen gesehen. Ich holte
die Pflanze von dort und lud Longfellow zu einem Glase Maiwein für
den 8. Juni ein. Es versammelten sich auch noch mehrere Verehrer
Longfellows in meiner Wohnung. Meine Frau und eine ihrer Freundinnen
brachten »Das Veilchen« von Goethe, in Musik gesetzt von Mozart,
zum Vortrag, und einer meiner Freunde sprach mit Begeisterung das
Gedicht von dem Tiroler Lyriker Hermann v. Gilm »Auf unseren
ewigen Bergen«, welches auf Longfellow einen tiefen Eindruck machte.
Ich führte auch mein damals fünfjähriges Töchterchen zu dem greisen
Dichter und empfahl ihr, sich die Züge des berühmten Mannes in das
Gedächtnis einzuprägen. Er setzte sie auf seinen Schoss und gab ihr
mit freundlichen Worten die Lehre, in späteren Jahren neben den

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 626, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-16_n0626.html)