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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 766

Text

DIE NAZARENER.
Von PAUL R. v. RITTINGER (Wien).

Von allen den zahllosen Schulen der Kunstgeschichte haben sie
jetzt wohl das kläglichste Los, die armen Nazarener. Einst Künstler
ersten Ranges neuerstandene Raphaels und Michel Angelos, endliche
Erlöser der deutschen Kunst, sind sie jetzt blasse, bedeutungslose
Nachahmer geworden. Cornelius? Man zuckt die Achseln; das war ja
der alte Akademieprofessor aus Düsseldorf, der weder malen noch
zeichnen konnte und doch ein grosser Künstler sein wollte. Nun, jetzt
ist das ja Gott sei Dank vorbei, wir haben ja den »guten Naturalismus«
hinter uns und da kann uns so wer selbstverständlich nicht mehr
imponieren. Aber vielleicht wird ihre Zeit doch noch einmal kommen,
vielleicht wird man einmal ebenso über uns lachen, wie wir über die
Ästhetiker des vorigen Jahrhunderts lachen, für welche Michel Angelo
und Dürer ganz kleine Durchschnittskünstler und der langweilige
Poussin sowie ein gewisser Herr Diepenbeck grosse Meister waren.
Michel Angelo—Diepenbeck, Cornelius—Menzel. Für uns klingt die
Parallele noch etwas paradox; aber später, wer weiss?

Im Jahre 1811 thaten sich mehrere junge Maler, denen die
Akademiekunst in Deutschland nicht mehr behagen wollte, zusammen
und siedelten nach Rom über. Ein gewisser Overbeck und ein gewisser
Cornelius waren die ersten, später kamen dann Veit, Steinle, Schnorr
und Führich. In der Nähe von Rom befindet sich das verlassene
Kloster von San Isidoro. Dort siedelten sich die akademiescheuen
Künstler (später selbst meist Akademieprofessoren) an, führten ein
einsames Leben, wie man sich das recht idyllisch vorstellen kann, und
gründeten da in aller Seelenruhe eine neue Kunst auf der Basis des
Quattrocento und Trecento. Gelernt hatten sie zu Hause so gut wie
nichts, und von den primitiven Italienern war — wenigstens in der
Technik — natürlich auch nicht viel zu lernen. Es blieb ihnen daher
leider nichts anderes übrig, als sich lediglich mit dem Geiste dieser
einmal gewählten Meister zu beschäftigen, sich in ihren stillfrommen
Gedankenkreis zu versenken, die Poesie ihrer Gefühle zu bewundern
und dann im besten Fall ebenso fromm und poesievoll zu malen wie
diese. In der Technik der Malerei — ich meine damit eine gewisse
Routine in Farben und Formengebung — waren sie begreiflicherweise
noch weniger als schwach. Einige von ihnen suchten das Versäumte
später in löblichem Eifer nachzuholen, giengen bei Raphaël und Michel
Angelo in die Schule und eigneten sich so eine leidliche Fertigkeit
in symmetrischen Compositionen, glatten Draperien, antikisierenden

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 766, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0766.html)