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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 767

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DIE NAZARENER. 767

Muskeln etc. an. Mit der Farbe aber blieb’s bei ihnen ein wahres Elend.
Das Resultat dieser Bestrebungen ist leicht zu berechnen: erkünstelte,
primitive Empfindung, conventionelle Zeichnung und vollständiger
Mangel an Farbensinn.

Das ist so in Kurzem der Sinn dessen, was heute noch über
die Nazarener geschrieben wird (wofern man es überhaupt der Mühe
wert findet, über sie zu schreiben). Dass man auf diese Art keinen
besonderen Respect vor ihnen bekommen kann, ist selbstverständlich.
Ich bin nun freilich anderer Ansicht, habe ihre Bilder immer mit
grossem Vergnügen betrachtet und bin sogar naiv genug, einige von
ihnen für ganz eminente Künstler zu halten. Ich weiss, das ist
eigentlich eine Impertinenz oder doch zum mindesten eine grobe
Geschmacklosigkeit; denn solche Leute wie die Nazarener vegetieren
in der modernen Kunstgeschichte überhaupt nur zum Zwecke einer
heilsamen Abschreckung weiter, aber ich glaube trotzdem, dass es für
uns Deutsche keine so unglaubliche Erniedrigung ist, für diese einzigen
deutschen Künstler, die es seit Dürer’s Zeiten gegeben, ein Wort der
Anerkennung oder doch wenigstens Entschuldigung zu finden.

Sie gehören ja gewiss nicht zu denen, die die Technik der Kunst
vorwärts schieben, die die Maler »scharf schauen« lehren und alle diese
wertvollen Dinge, durch die z. B. Menzel gross geworden ist. Ob man
die Natur nach dem Recept Ruskins oder als Impressionist malen soll,
ist ihnen sogar total gleichgiltig. Aber dafür haben sie etwas anderes,
was wieder der grosse Menzel absolut nicht hat; ihre Bilder sagen
einem doch wenigstens etwas.

Ich finde, dass es für den Nichtmaler nichts langweiligeres und
gleichgiltigeres gibt, als Bilder von Menzel. Sie mögen vortrefflich
gemalt, und vor allem sehr »scharf geschaut« sein, aber was geht
denn mich das alles an? Diese Arbeiter in der Schmiede, diese Pro-
cession, dieses verzopfte Kircheninterieur sind ja gewiss viel lebendiger
und wahrheitsgetreuer aufgefasst, als alle die nazarenischen Bilder,
aber so etwas interessiert mich doch um Gotteswillen nicht. Wenn
ich es durchaus sehen will, so schau ich mir’s einfach in natura an,
da hab ich’s doch immer noch besser und brauche keinen Maler dazu.
Wenn der die Sachen gut malen kann, dann ist er eben sehr geschickt
in seinem Handwerk, aber was geht denn mich sein Handwerk an? Die
Kunst hört da auf das zu sein, was ihr bisher von allen Beschäfti-
gungen der Menschheit das weitestgehende Interesse gesichert hat,
nämlich die Sprache einer Seele zur anderen, die Verdolmetschung
von Anschauungen und Empfindungen, die man nicht so einfach mit
Worten sagen kann und doch gesagt werden müssen, sie wird degra-
diert zum zünftischen Handwerk, das niemanden etwas angeht als den
Zunftgenossen; denn obendrein ist dann dieses Handwerk ein furchtbar
überflüssiges, das eine Concurrenz mit Schustern und Schneidern
unmöglich aushalten könnte. In Cornelius und den Nazarenern aber
ist die Kunst wirklich Kunst, diese Leute sind nicht nur Maler, sondern
auch Menschen, die uns etwas zu sagen haben. Wer einmal in München

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 767, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0767.html)