Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 768

Text

RITTINGER.

in der Ludwigskirche gestanden ist, wo alle die ernsten grossen
Gestalten auf einen heruntersehen mit den tiefen seelenvollen Blicken,
dieses poetisch grosse Himmelreich von Propheten und Patriarchen, wo
alle Äusserlichkeit aufzuhören scheint in der grossen Sprache der Seelen,
die sich bloss ansehen und sich verstehen, wer da die Engel des jüngsten
Gerichtes gesehen hat mit ihrem wundersamen ernsten Lächeln, auf-
und niederschwebend zwischen den Auferstandenen und Gott — und
und es ist alles so ernst, so weihevoll, so wie nach dem Leben, hinter
den Dingen die da bestehen, so ähnlich wohl, wie die grosse Stille,
zu der Almers aufblickt — wer das alles gesehen hat, mit ernstem,
offenem Herzen, dem wird es ekeln vor der niedrigen Herabwürdigung,
die dieser einsam grosse Nazarener von den heutigen Kunstverständigen
erfährt, er wird sich sagen müssen, das ist ein Prophet, und jene
anderen sind malerische Jongleurs, weiter nichts.

Und der Mann wird auch keinen Augenblick an der Ursprüng-
lichkeit dieser grossen nazarenischen Kunst zweifeln. Sie haben ja
gewiss in der Art einer älteren Kunst gemalt, aber doch nur deshalb,
weil sie selbst Männer von dieser älteren Art waren. Nachahmer,
Anempfinder! Es gibt keine epochemachende Kunstschule, die nach-
ahmt und anempfindet.

Hat etwa Raphaël in den Stanzen, Goethe in der Iphigenie die
Antike bloss nachgeahmt und anempfunden? Gewiss nicht. Sie waren
einfach antike Menschen und mussten deshalb antik malen und dichten.
Ebenso waren die Nazarener romantische Menschen, durch und durch,
und an Führichs christlicher Kunst ist ebensowenig Erlogenes wie an
den alten Kölner Malern.

Es ist ein grosser Unterschied zwischen diesen Malerromantikern
und den ersten romantischen Dichtern Tieck, Schlegel etc., der Unter-
schied nämlich, dass die Maler 13 Jahre später begonnen haben als
die Dichter, und das macht viel aus. Sie stehen in dieser Hinsicht
auf gleicher Stufe mit Uhland, dem kerngesunden, durch und durch
nationalromantischen Menschen, der auf die geisterreichen Anstauner
des alten Wunderlands gefolgt ist. Cornelius, Führich, Steinle sind
alle schon aufgewachsen in der Sphäre dieser Bewegung, haben sie
von Jugend auf in sich aufgenommen und sind das, was Tieck sein
wollte. 1789 gaben die Gebrüder Schlegel das Athenaeum heraus,
das Manifest der romantischen Dichterschule, und 1811 gründeten
Overbeck und Cornelius die Bruderschaft von San Isidoro. Ihre ersten
künstlerischen Versuche standen unter dem Einfluss romantischer
Dichtung, »Sternbalds Wanderungen« hatten ihre Wege geebnet.
Bevor Führich nach Rom kam, hatte er Tiecks Genoveva illustriert.
Cornelius’ erste Arbeit sind die Gretchenscenen aus Faust. Steinle
malt Bilder zu Brentanos Gedichten. Was Tieck vor sich gesehen
hat, als Mensch von Geschmack und Witz, das ist in den Nazarenern
Fleisch und Blut geworden, seine Träume sind ihre Natur. Einen so
durchaus christlichen, positiv gläubigen Menschen wie Führich hat es
im strengsten Mittelalter nur selten gegeben. Und Führich war nicht

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 768, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0768.html)